Mavra und Brazil hoben die Köpfe. Der Paß wurde also immer noch gehalten!
»Ich stehe hier vor dem Schacht«, erwiderte der Gedemondaner drohend. »Sie kennen die Regeln, Sangh. Ich kann nicht getötet werden und gebe mich nicht gefangen.«
»Ich habe genug«, seufzte Gunit Sangh gereizt. »Packt ihn!«
Die kleineren Dahbi klappten auseinander und gingen auf den Gedemondaner los, der sie ruhig erwartete. Klebrige Vorderbeine, von denen etwas Grauenvolles troff, griffen nach dem riesigen Pelzwesen, und an den Beinen entlang blitzten die Natursäbel der Dahbi. Das Vorderbein des Wesens links vor dem Gedemondaner berührte das Geschöpf, das hingriff und es unerwartet mit der linken Hand packte. Es gab einen grellen Blitz von blauweißem Feuer, das den Dahbi einzuhüllen schien, eine Supernova, die für Sekundenbruchteile aufgleißte und wieder erlosch.
Der Gedemondaner nutzte die Betäubung des anderen, drehte sich herum, griff mit der rechten Hand hin und packte das Vorderbein des zweiten Dahbi, bevor er es zurückziehen konnte. Wieder das Aufflammen, und als es dunkel wurde, war von dem Dahbi nichts mehr zu sehen.
Gunit Sangh hatte kein so hohes Alter, keine so hohe Stellung erreicht, ohne Mut und rasche Reflexe zu besitzen. Er stürzte vor, sein Vorderbein schnellte herum und schnitt dem Gedemondaner mit einem Hieb den Kopf ab.
Aus dem körperlosen kopflosen Körper spritzte Blut auf das makellos weiße Fell, und das Wesen tappte wie noch lebend vorwärts, als Sangh mit einer schier unvorstellbaren Schnelligkeit sich dem geköpften Geschöpf entzog.
Die Arme des Gedemondaners streckten sich, er machte noch ein, zwei Schritte, dann erzitterte er und brach zusammen, zuckte noch kurz und erschlaffte am Boden. Die gespeicherte Energie im Körper flammte auf, eine neue grelle Nova, und es war vorbei. Nichts blieb übrig als das Blut und der abgetrennte Kopf, der mit glasigem Blick vom Avenue-Boden heraufstarrte.
Gunit Sangh war offenkundig tief betroffen. Sein Gehirn schien fieberhaft zu arbeiten. Es war Brazil, aber jetzt tot, und Brazil konnte nicht sterben, also konnte es nicht Brazil gewesen sein, aber wenn er es nicht war, wer war dann Brazil…?
Er blickte wieder zur Äquatorialbarriere. Da standen zwei von den fliegenden Pferden, auf denen Agitar zu sitzen pflegten. Was…? Und warum zwei?
Es traf ihn beinahe wie ein körperlicher Schlag. Mavra Tschangs Katatonie, Brazils starrer Körper, die ganzen Zaubertricks, die sie vorgeführt hatten.
Dann lachte Gunit Sangh, lachte so laut, daß es von den Wänden der Schlucht widerhallte. Er blickte auf die beiden geflügelten Pferde und sagte:»So, so. Der echte Nathan Brazil, nehme ich an. Und wen haben Sie dabei? Kein echtes fliegendes Pferd, würde ich sagen. Nein, könnte es sein, daß ich auch die auf geheimnisvolle Weise verschwundene Mavra Tschang gefunden habe? Ah? Ein Zucken des Wiedererkennens! Ja, wahrhaftig.« Er lachte wieder auf. »Ich habe gewonnen!« rief er. »Im allerletzten Augenblick, aber ich habe gewonnen!«
Hinter den beiden flammte Licht auf.
Sangh sah es und brüllte vor Wut auf. Er ging auf sie los, und beinahe reflexartig schoben sie sich zurück in die Äquatorbarriere, schoben sich hinein und gelangten hindurch in den Schacht der Seelen, bevor sie auch nur begriffen, was geschah.
»Noch nicht!« kreischte Gunit Sangh. »O nein! Noch nicht!« Er stürzte zur immer noch beleuchteten Barriere.
Plötzlich hörte man Hufgetrappel, als jage ein Pferd die Schlucht zur Barriere herauf. Sangh zuckte zusammen, blieb stehen und drehte den mächtigen Schädel. Er erstarrte.
Ein Dillianer sprengte auf ihn zu, leuchtend wie ein geisterhaftes, übernatürliches Wesen, ein Dillianer, der ein großes, breites Schwert schwang.
Sangh stieß mit seinen tödlichen Vorderbeinen zu, aber das Schwert drang hindurch, zerteilte den riesigen Dahbi, als fahre man mit einem Messer durch Butter. Sangh brüllte vor Schmerzen und stürzte hin, begann sich zu verwandeln, wurde durchsichtiger, versuchte den ihm noch offenen Fluchtweg zu nutzen.
Der große Zentaur lachte gellend, schwenkte das Schwert, und statt der Waffe hatte er nun einen Eimer in der Hand, einen Eimer voll überschwappender Flüssigkeit. Sangh riß den Kopf hoch und kreischte:»Nein!«, dann ergoß sich der Inhalt auf den halb im Gestein versunkenen Fels. Wo das Wasser hinklatschte, verfestigte sich die Gestalt erneut zu hellem Weiß, der Dahbi ächzte und wurde von den Vorderbeinen des Zentaurs getroffen, der ihn an der Stelle, wo der Dahbi-Körper halb im Gestein steckte, halb herausragte, buchstäblich in zwei Hälften zertrennte. Der Leib erschauerte kurz, dann erschlaffte er.
Der Zentaur lachte triumphierend und warf den Eimer an die Felswand, wo er klirrend herabfiel. Die Erscheinung fuhr herum und galoppierte durch die Kluft davon, zurück in die Dunkelheit, die ihn rasch verschluckte.
Im Inneren der Äquatorbarriere starrte Mavra auf den Schauplatz der Szene, die sie soeben beobachtet hatten.
»Sprich jetzt, wenn du willst«, ertönte hinter ihr Brazils Stimme, die eindeutig die seine war, aber doch auf sonderbare Weise verändert und verstärkt wirkte. »Ich kann deine Gedanken hören.«
»Das — das war Asam!« stieß sie hervor. »Aber er ist tot! Er ist im Kampf gefallen… Sie sagten…« Sie drehte sich nach Brazil um und verstummte. Ihre Augen wurden vor Entsetzen riesengroß. Brazil war nicht mehr da.
An seiner Stelle gab es eine riesige weiche Masse, zweieinhalb Meter hoch, die mit nichts so viel Ähnlichkeit hatte wie mit einem riesigen Menschenherzen, das mit beinahe hypnotischer Regelmäßigkeit pochte, ein geflecktes rosiges und dunkelrotes Gewebe mit zahllosen Venen und Arterien unter der nackten Haut, die rötlichblau war. An der unregelmäßigen Oberseite befand sich ein Kreis von Wimpern, schmutzigweiß, die in unaufhörlicher Bewegung waren — Tausende von Härchen, wie winzige Schlangen, jedes ungefähr einen halben Meter lang. Aus der Mitte der weichen schlagenden Masse ragten in gleichmäßigen Abständen sechs Tentakel, breit und kraftvoll aussehend, bedeckt mit Tausenden von winzigen Saugnäpfchen. Die Tentakel waren von ungesundem Blau, die Saugnäpfe körniggelb. Aus Poren in der Hauptmasse schien Blutwasser zu rinnen, dick und stinkend. Es tropfte nicht, sondern bildete einen unregelmäßigen Überzug auf dem ganzen Körper, wobei der Überschuß von der Haut wieder aufgenommen wurde.
»Nein, es war nicht Asam«, erklärte Nathan Brazil, dessen Stimme irgendwo aus dieser grauenhaften Erscheinung zu dringen schien. »Es war einfach die ausgleichende Gerechtigkeit. Der Borgo-Paß hat gehalten, und ein alter Freund von uns bekam dadurch Gelegenheit, von Zeit zu Zeit nach uns zu sehen.«
Sie konnte ihren Blick von dem entsetzlichen Ding nicht lösen, das vor ihr stand, vermochte ihren Ekel aber durch eine enorme Willensanstrengung zu unterdrücken.
»Es war Zigeuner«, sagte sie staunend.
»Aber für Gunit Sangh sah er wie Asam aus«, stellte Brazil befriedigt fest. »Das war genau die Todesart, die er verdient hatte.«
»Und ein Glück für uns«, meinte sie. »Er hätte uns am Ende beinahe noch erwischt.«
»Nein«, sagte Brazil. »Er hatte schon verloren. Es war ihm nur noch nicht klar. So schwer das auch zu glauben sein mag, Mavra, es war für die Barriere noch nicht an der Zeit, sich zu öffnen. Es gab einen — nennen wir es Defekt. Einen passenden Defekt, als ich von einem Todfeind in die Enge getrieben worden war. Der Schacht sorgt für die Seinen, Mavra, selbst wenn man es nicht will. Und hier im Inneren bin ich unverwundbar.«
Sie sah zu ihm auf, und er konnte ihren Widerwillen vor seiner Erscheinung fühlen, einen Ekel vor dem grauenhaften Geruch, wie nach Verwesung.
»So haben die Markovier ausgesehen?« stieß sie hervor. »Die legendären Götter, die utopischen Herren der Schöpfung? Ach du lieber Gott!«
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