Serge Ortega streckte die Hand aus, und Zinder ergriff sie.
»Also bis zum Morgengrauen, Gilgram Zinder. Wir treffen uns unten am Kanal, ja?«
»Am Kanal«, bestätigte der andere. »Aber nicht Doktor Gilgram Zinder, nein, nicht mehr. Das meiste von ihm starb vor ungefähr neunhundert Jahren in Oolakash. Das wenige von ihm, das noch überlebte, starb mit Nikki auf Olympus, und der Rest mit Obie auf ›Nautilus‹. Ich bin nur Zigeuner, Ortega. Das will ich sein, also bin ich es. Ich kann sein, wer und was ich will.«
»Warten Sie! Noch eines!« rief der Ulik. »Woher wissen wir, ob wir lange genug die Stellung gehalten haben? Können Sie mir das sagen?«
Zigeuner lachte.
»Wenn ich hier bin, wissen Sie es genau, und auf sehr plötzliche und schmutzige Art. Wenn nicht — falls Sie bis zur Nacht durchhalten können, und wenn die Nacht klar ist und Sie vom Himmel etwas sehen können, werden Sie sehen, wie die Sterne erlöschen.«
»Aber das ist doch ausgeschlossen«, wandte Ortega ein. »Selbst wenn das Universum erlischt, würde es Tausende von Jahren dauern, bis wir es erfahren.«
»Wenn er abschaltet«, sagte Zigeuner zu den beiden anderen, »wird das Universum nicht einfach aufhören, zu bestehen. Es wird praktisch niemals existiert haben. Es wird diese Sterne und den Staub, der im Licht aufleuchtete, nie gegeben haben. Es wird nichts geben als das tote markovische Universum — und die Sechseck-Welt. Nichts sonst wird daneben existieren oder je existiert haben.«
Ein ernüchternder Gedanke.
»Noch eine letzte Frage«, sagte Marquoz. »Haben Sie Brazil gesagt, wer Sie sind?«
Zigeuner lachte.
»Nein. Er wollte es wissen, aber er wollte mir auch nicht verraten, warum ein markovischer Wächter ein jüdischer Rabbiner ist, also gleicht es sich wieder aus.« Er verschwand.
»Auch wahr«, sagte Ortega zu niemand Bestimmtem. Schließlich wandte er sich an Marquoz. »Wenn Sie schon hier sind, werden Sie das Kommando über die Verion-Seite übernehmen, hoffe ich.«
Marquoz nickte.
»Alles geregelt. Wenn ich soweit bin, fliegen sie mich hinüber.«
Zum zweitenmal in dieser Nacht streckte Ortega die Hand in einer freundschaftlichen Geste aus, und zum zweitenmal wurde sie in diesem Geist ergriffen.
»Wie bei Zigeuner«, sagte Ortega. »Wir treffen uns am Kanal.«
»Am Kanal«, wiederholte Marquoz. »Wir werden nur dreißig Meter auseinander sein.«
»Die schwimmen wir«, sagte Ortega jovial.
Stromabwärts gab es eine heftige Explosion, weit entfernt noch, und Lichter flammten dort unten auf. Feuersalven lösten sich automatisch, dann erlosch und verstummte alles wieder.
»Ich gehe lieber«, sagte der Hakazit, während der Widerhall von Explosion und Schüssen in der Schlucht noch zu hören war. Er drehte sich um, stutzte und drehte den Kopf.
»Wissen Sie was? Wäre es nicht irre, wenn wir siegen würden?«
Ortega lachte.
»Das würde alles durcheinanderbringen.«
Marquoz stapfte in die Dunkelheit davon. Ortega blieb sitzen und starrte in die Schwärze, wartete und versuchte von Zeit zu Zeit einen Blick auf die verschleierten Sterne über sich zu erhaschen.
Die Avenue, an der Äquatorbarriere
Serge Ortega hatte sein Wort gehalten. Obwohl sie an Kampfspuren und gelegentlich an Leichen vereinzelter Späher vorbeikamen, hatten sie auf dem ganzen Weg keinen Widerstand gegen sich. Ein paarmal rutschten sie auf den Geröllfeldern fast ins Wasser, aber das war an Schwierigkeiten alles gewesen.
Mavra hatte die Äquatorbarriere nur aus dem Weltraum gesehen, und sie kam ihr, als sie nun vor ihr aufragte, weniger wie eine dunkle Mauer vor, als sie es aus der Ferne zu sein schien. Teilweise durchscheinend, ragte sie empor, so weit das Auge reichte, ein gigantischer Damm am Ende des Flusses, der hier nur ein Rinnsal war. Sie bemerkte, daß die Stelle, wo die Avenue an die Mauer gelangte, völlig trocken war; offenkundig war das einzige Wasser hier jenes, das an die ungeheure Barriere gelangte und dort herabtroff.
Sie sah aus wie eine riesige, nicht spiegelnde Glasscheibe, nicht besonders dick, und erstaunlich sauber und frei von allen Verschleißerscheinungen. Nur hier, an der Mauer selbst, konnte man die eigentliche Avenue sehen — glänzend und glatt, wie die Barriere selbst. Wo sie auf die Mauer traf, gab es keine Fuge, keinen Spalt; die beiden gingen einfach ineinander über.
Es war am zweiten Tag kurz vor Dunkelwerden, aber selbst Brazil konnte nicht auf der Stelle hineingelangen. Mit Hilfe des Gedemondaners sagte er:»Wir müssen bis Mitternacht Schachtzeit warten, das sind etwas mehr als sieben Stunden nach Sonnenuntergang. Das heißt, wir setzen uns hin und warten ab.«
Mavra blickte die Schlucht hinauf.
»Ob sie wohl noch am Leben sind?« fragte sie.
»Ja«, war alles, was er darauf erwidern konnte. Er wollte es keinem verraten, am wenigsten Mavra, aber er war tief und aufrichtig berührt von dem Opfer, das diese Wesen von vielen Rassen, unter denen ihm manche jetzt viel bedeuteten, brachten. Der Krieg war eher eine Massenangelegenheit, etwas Abstraktes, und in einer Schlacht gab es viele Möglichkeiten. Man konnte siegen oder verlieren, am Leben bleiben oder sterben, aber eine Chance hatte man immer. Die anderen hatten keine, und sie wußten es, taten es aber doch, damit er hier stehen konnte.
Seine Gedanken kehrten wieder einmal zurück zur Alten Erde, ganz besonders zu Masada. Er war nicht dabeigewesen, eigentlich gar nicht sehr nahe, aber die Geschichte des ungeheuren Opfers, das diese Menschen gebracht hatten, die wundersam lange Zeit, die sie durchgehalten, und am Ende ihre völlige Hingabe an die Sache, die den Tod vorschrieb statt der Ergebung in die Tyrannei, hatte ihn in Augenblicken der Trostlosigkeit und Niedergeschlagenheit erhoben. Wenn der Mensch eine solche Flamme in sich trug, gab es Hoffnung.
Es gab wenige solche Beispiele, dachte er traurig, wenige, aber immer das eine, immer zu einer Zeit, wenn man schwören mochte, von Größe sei nichts mehr zu spüren, der menschliche Geist sei erlahmt, alles sei verloren. Dies war ein solcher Augenblick, dachte er. Es mochte lange, sehr lange dauern, bis dergleichen wieder vorkam, aber zum erstenmal vermochte er zu glauben, daß es wieder vorkommen würde.
Der Gedanke verblüffte ihn ebenso wie seine Fähigkeit, ihn nach so langer Zeit überhaupt fassen zu können. Konnte es sein, daß auch seine eigene Flamme nicht erloschen war? dachte er.
Es erstaunte ihn auch, daß sie nur zu dritt waren. Er, Mavra und der Gedemondaner, den sie brauchten, um miteinander sprechen zu können. Er hatte es mehr Leuten angeboten, eigentlich jedem, der mitkommen wollte. Sie hatten es vorgezogen, am Paß zu bleiben. Vielleicht sind sie die Klügeren, dachte er wehmütig. Ihnen war wenigstens die Wahl geblieben.
»Was wird geschehen, wenn wir… hineingehen?« fragte Mavra und blickte wieder auf die scheinbar undurchdringliche Wand.
»Um Mitternacht werden die Lichter für diesen Bereich angehen«, erwiderte er. »Dann wird das Stück um die Avenue verblassen, und man kann ins Innere treten. Dort werden weder Sie noch der Gedemondaner sich verwandeln, aber ich werde es tun. Die Anlage ist für Markovier entworfen worden, wird mich also in einen solchen verwandeln. Sie sind ziemlich häßlich und abschreckend, schlimmer als das meiste, was Sie bisher gesehen haben. Lassen Sie sich davon aber nicht beirren. Das werde immer noch ich sein. Danach fahren wir hinunter zum großen Kontrollraum, ich betätige mich am Sechseck-Welt-System, um es wieder einzuschalten und den Ruf einzuspeisen, dann stellen wir fest, wie groß der Schaden ist.«
»Den Ruf?« wiederholte sie.
Er nickte.
»Ja. Die Bevölkerung in jedem Hex halbieren, die Tore vorbereiten und jene, die wir brauchen, zu den Dingen veranlassen, die getan werden müssen, sobald sie geschehen müssen. Sie werden sehen. Es ist nicht so kompliziert, wie es klingt.«
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