Jack L. Chalker
Die Sechseck-Welt
Massenmord ist gewöhnlich um so entsetzlicher der unerwarteten Schauplätze und des früheren Charakters des Mörders wegen. Das Massaker von Dalgonia kann als Beispiel dienen.
Dalgonia ist ein unfruchtbarer, felsiger Planet in der Nähe einer sterbenden Sonne, überflutet nur von geisterhaftem, rötlichem Licht, dessen wundersame Strahlen unheimliche Schatten auf die schroffen Gipfel werfen. Von der dalgonischen Atmosphäre ist nur wenig geblieben, das anzeigt, daß hier je Leben geherrscht haben kann; das Wasser ist verschwunden oder, wie der Sauerstoff, jetzt tief im Gestein gebunden. Die schwächliche Sonne, unfähig, der Landschaft mehr zu geben als die dunkelrote Färbung, vermag den Horizont nicht zu erhellen, der trotz eines bläulichen Dunstes von den noch darin enthaltenen inaktiven Elementen so dunkel war wie die Schatten. Es war eine Welt von Gespenstern.
Und wurde von ihnen heimgesucht.
Neun Gestalten stapften lautlos in die Ruinen einer Stadt, die man leicht für die zerklüfteten Wände der nahen Berge hätte halten können. Verkrümmte Türme und zerbröckelnde Burgen von grünlich-braunem Gestein standen vor ihnen und ließen sie zwergenhaft unbedeutend erscheinen. Nur ihre weißen Schutzanzüge hoben sie aus dieser düster-schönen Welt der Stille hervor.
Die Stadt hatte mit nichts so sehr Ähnlichkeit wie mit einer, die Äonen zuvor aus Eisen erbaut und in einem toten Meer ausgedehnter Verwitterung durch Rost und Salz ausgesetzt worden war. Wie ihre Welt war sie stumm und tot.
Ein genauerer Blick auf die Gestalten hätte gezeigt, daß sie alle waren, was man ›menschlich‹ nannte — Bewohner des jüngsten Teiles des Spiralarmes ihrer Galaxis. Fünf waren weiblich, vier männlich; der Anführer war ein hagerer, zerbrechlich wirkender Mann in mittleren Jahren. Auf seinem Rücken und an der Sichtscheibe war der Name ›Skander‹ zu lesen.
Sie standen am halb zerfallenen Stadttor, wie schon so oft zuvor, und starrten die unfaßbaren, großartigen Ruinen an. Durch ihre Köpfe, wie durch jene Tausender von anderen, die auf über zwei Dutzend ebenfalls toten Planeten ähnliche Ruinen besichtigt hatten, gingen immer wieder die offenbar nicht zu beantwortenden Fragen.
Wer waren sie, die mit solcher Pracht bauen konnten?
Warum sind sie untergegangen?
»Da dies Ihr erster Ausflug als graduierte Studenten zu einer Markovier-Ruine ist«, sagte Skanders dünne Stimme in ihren Helmen und riß sie aus ihrer staunenden Versunkenheit, »möchte ich eine kurze Einführung geben. Ich entschuldige mich, wenn ich Bekanntes wiederhole, aber das wird auch eine gute Gedächtnisauffrischung sein. Jared Markov entdeckte die erste dieser Ruinen vor Jahrhunderten auf einem Planeten, der über hundert Lichtjahre von hier entfernt ist. Es war die erste Begegnung unserer Rasse mit Anzeichen von Intelligenz in unserer Galaxis, und die Entdeckung erregte ungeheures Aufsehen. Diese Ruinen wurden auf ein Alter von über einer Viertelmillion Standardjahren geschätzt — und sie waren die jüngsten von allen seither entdeckten. Es zeigte sich, daß, während unsere Rasse noch auf ihrer Heimatwelt mühevoll ihr Leben fristete und gerade erst das Feuer entdeckt hatte, jemand anderer — diese Wesen — ein riesiges interstellares Reich von noch immer unbekannten Ausmaßen besaßen. Alles, was wir wissen, während wir in die Galaxis eindrangen, ist, daß diese Überreste immer häufiger vorkommen. Und trotzdem haben wir noch keinerlei Hinweise darauf, wer sie gewesen sind.«
»Gibt es denn überhaupt keine Artefakte?«fragte eine weibliche Stimme ungläubig.
»Keine, wie Sie wissen sollten, Bürgerin Jainet«, kam die ein wenig mißbilligend klingende Antwort. »Das ist ja das Ärgerliche daran. Die Städte, ja, über deren Erbauer sich einige Schlußfolgerungen ziehen lassen, aber keine Einrichtungsgegenstände, keine Bilder, nichts von auch nur entfernt nützlicher Art. Die Räume sind, wie Sie alle sehen können, völlig leer. Es gibt auch keine Friedhöfe, ebenso wenig irgend etwas Mechanisches.«
»Das liegt am Computer, nicht wahr?«fragte eine andere, tiefere Frauenstimme. Sie gehörte dem stämmigen Mädchen von der Hoch-Schwerkraftwelt, dessen Familienname Marino war.
»Ja«, sagte Skander. »Aber kommen Sie, wir gehen in die Stadt hinein und können uns auf dem Weg unterhalten.«
Sie machten sich auf den Weg und erreichten bald eine Straße, die ungefähr fünfzig Meter breit war. Auf beiden Seiten verliefen Gehwege, jeder sechs bis acht Meter breit, ähnlich den Gleitwegen in Raumflughäfen. Man sah aber kein Laufband oder etwas Vergleichbares; die Gehwege bestanden aus demselben grünlich-braunen Gestein oder Metall (oder was es auch war), woraus sich die ganze Stadt zusammensetzte.
»Die Kruste dieses Planeten ist von durchschnittlicher Dicke«, fuhr Skander fort, »vierzig bis fünfundvierzig Kilometer. Messungen auf dieser und anderen Welten der Markovier haben zwischen der Kruste und dem natürlichen Mantelgestein darunter überall eine Diskontinuität von etwa einem Kilometer Dicke ergeben. Es handelt sich dabei, wie wir feststellen konnten, um eine künstliche Schicht aus einem Material, das eigentlich Plastik ist, aber eine Art von Leben erhalten zu haben scheint — jedenfalls schließen wir das aus den Erkenntnissen. Bedenken Sie, wieviel Information Ihre eigenen Zellen enthalten. Sie sind die Produkte der besten Techniken genetischer Manipulation, physisch und geistig vollkommene Exemplare des Besten Ihrer Rassen, an Ihre Heimatplaneten angepaßt. Und trotzdem sind Sie weit mehr als die Summe Ihrer Teile. Ihre Zellen, vor allem Ihre Gehirnzellen, speichern Eingaben in einem erstaunlichen und anhaltenden Ausmaß. Wir glauben, daß dieser Computer unter Ihren Füßen aus unendlich komplexen künstlichen Gehirnzellen bestanden hat. Stellen Sie sich das einmal vor. Er verläuft durch den ganzen Planeten, einen Kilometer dick — nur Gehirn. Und das alles, wie wir glauben, auf die einzelnen Hirnwellen der Bewohner dieser Stadt eingestimmt! Stellen Sie sich das vor, wenn Sie können. Wünschen Sie sich irgend etwas, und schon ist es da. Nahrung, Möbel — wenn sie solche benutzt haben —, sogar Kunst, erschaffen vom Gehirn des Wünschenden und durch den Computer verwirklicht. Wir haben jetzt natürlich inzwischen kleine und primitive Ausgaben davon — aber das liegt Generationen, vielleicht Jahrtausende, in der Zukunft für uns. Was man sich auch vorstellen könnte, es würde geliefert werden.«
»Diese utopische Theorie erklärt das meiste, was wir gesehen haben, aber nicht, warum das alles Ruinen geworden sind«, meldete sich eine hohe, jugendliche Stimme. Sie gehörte Varnett, dem jüngsten und vermutlich begabtesten, unzweifelhaft phantasievollsten Mitglied der Gruppe.
»Ganz richtig, Bürger Varnett«, bestätigte Skander, »und es gibt drei verschiedene Meinungen dazu. Die eine ist, daß der Computer zusammenbrach, eine zweite, daß er Amok lief — und daß die Wesen damit nicht fertig wurden. Kennt jemand die dritte Theorie?«
»Stagnation«, erwiderte Jainet. »Sie starben, weil sie nichts mehr hatten, wofür sie leben, sich anstrengen oder arbeiten konnten.«
»Genau«, erwiderte Skander. »Und alle drei Mutmaßungen lassen Zweifel aufkeimen. Eine Interstellar-Kultur dieser Größenordnung hätte Defekte berücksichtigt, ein Ersatzsystem wäre vorgesehen gewesen. Was die Amok-Theorie angeht — nun, sie hört sich ganz logisch an, nur weist alles darauf hin, daß dasselbe gleichzeitig überall eintraf, im ganzen Imperium. Ein Planet, sogar mehrere, gut, aber nicht alle zur selben Zeit. Ich bin nicht unbedingt bereit, diese letzte Theorie zu akzeptieren, obwohl es diejenige ist, die am besten paßt. Irgend etwas sagt mir, daß sie sogar das berücksichtigt hätten.«
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