Sie lächelte, griff nach seiner Hand und drückte sie. Sie hätte den alten Abenteurer am liebsten umarmt, aber dafür waren sie beide zu zerschlagen. Immerhin dachte sie wieder an den Traum, diesen Bastard ihres Innersten, geweckt von dem Totschläger. Sie wünschte sich, ihrer Seite und Sache ebenso sicher zu sein, wie er es jetzt zu sein schien.
»Und was tun wir jetzt?« fragte er. »Ich würde nicht mehr lange hierbleiben, wenn Sie glauben, daß Sie weiterziehen können. Es besteht immer die Gefahr, daß sie irgend jemanden als Beobachter eingesetzt hatten, oder Gehilfen in Dillia könnten die Nachricht weitergeben. So oder so werden sie es hier erneut versuchen, sobald sie wieder eine Truppe aufzustellen vermögen. Der Gedanke beschäftigt mich schon seit zwei Tagen auf unliebsame Weise. Wie fühlen Sie sich?«
»Miserabel«, erwiderte sie düster. »Aber welche Möglichkeiten gibt es sonst?« Sie sah sich in der Hütte um, die zu einem Lazarett geworden war.
»Wir können auf den Rettungstrupp warten. Die Leute sollten innerhalb der nächsten Stunden hier sein, wenn alles gutgeht. Vergessen Sie nicht, sie können niemanden schicken, wenn sie den See nicht ohne den einen guten Heilkundigen lassen wollen. Vermutlich ist mit dem heutigen Boot oder einem Sonderschiff eine gute, kräftige Mannschaft eingetroffen, und sie sind schon auf dem Weg. Sie brauchen ohnehin Gerätschaften, was sie behindert.«
Zurück. Sie wollte am liebsten zurück, zurück in das friedliche Dorf mit seinem Bier, der freundlichen Gesellschaft und den sanften Wasserfällen.
»Wenn jemand über uns herfallen will, wäre das der richtige Zeitpunkt«, erklärte sie. »Und inzwischen wird jeder Beobachter eine recht gute Beschreibung von mir haben.«
»Die einzige andere Möglichkeit für uns ist die, weiterzugehen«, betonte er. »Und keiner von uns ist so bei Kräften, daß er volles Gepäck tragen oder einen Geschwindmarsch aushalten könnte. In ein paar Tagen, ja, aber nicht jetzt. Sie sind immer noch wacklig auf den Beinen, und von hier an wird der Steig sehr schwierig.«
Sie trat an den Tisch, an dem Asam gestanden hatte, als sie zu sich gekommen war. Dort lag eine Karte von Gedemondas ausgebreitet, eine topographische Karte mit Pfaden, Schutzhütten und Biwakunterkünften. Es war leicht zu finden, wo sie sich jetzt befanden, die erste Hütte über der Schneegrenze. Sie studierte die Karte, und er kam heran und blickte über ihre Schulter.
»Wonach suchen Sie?« fragte er.
»Nach einem eingestürzten Vulkan«, antwortete sie. »Ein riesengroßer Krater, hoch oben, umgeben von hohen Gipfeln.«
»Ein Großteil von Gedemondas ist vulkanisch«, stellte er fest. »Viele sind auch noch aktiv. Nicht sehr gefährlich, die meisten. Im Notfall könnte man vor einem Lavastrom davonlaufen. Von den großen paffen aber einige ziemlich stark.«
Sie nickte.
»Die Gedemondaner leben in Vulkanhöhlen und benützen miteinander verbundene Lavaröhren, um unter der Oberfläche voranzukommen. Das Netz ist von enormer Größe. Sie verwenden Vulkandampf auch für Hitze- und einfache Energieerzeugung — obwohl das ein nicht-technologisches Hex ist, haben sie statt maschinenerzeugter natürliche Dampfexplosion. Da ist es auch behaglich warm.«
Er zog erstaunt die Brauen hoch.
»Dampfkraft? Und wofür benützen sie die?«
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte sie offen. »Wir haben Geräusche gehört, die von der Drehung von Zahnrädern und Hebeln einer riesigen Maschine stammen konnten, und kamen auf den Gedanken, daß da vieles vorging, wovon wir nie etwas erfuhren. Wir haben aber nur gesehen, was man uns zeigte — und ich war in einer schlechteren Lage als die meisten, um genau aufzupassen. Ich glaube jedoch, daß alle Eingänge sich weiter im Inneren befinden, im Hochland.«
»Vielleicht an manchen der alten und wenig benutzten Steige?«
Sie schüttelte verneinend den Kopf.
»Nein. Es spielte keine Rolle, wo — es kann ruhig auch bequemer sein. Wir müssen nur höher hinauf…« Ihre Stimme verklang, als sie die Karte genauer betrachtete und ihr Blick sich auf einen Kreis konzentrischer Ringe, ähnlich Jahresringen an einem Baum, richtete; in der Mitte war eine freie Stelle. »In dieser Richtung«, sagte sie zu ihm und zeigte darauf. »Ich weiß, daß von ihrem Hauptkomplex aus Öffnungen in diesen Krater führen.«
Er sah sich die Stelle an.
»Oder vor Jahrhunderten führten«, sagte er halblaut mit sorgenvoller Stimme.
»Wir gehen hin. Stufenweise, ohne uns anzustrengen. Einverstanden?«
Er grinste.
»Das wissen Sie. Aber ob es uns gefällt, ich finde, wir sollten erst morgen früh losziehen, nicht gleich jetzt. Wir brauchen die zusätzliche Ruhepause, damit alles ein bißchen hält« - sie wußte, daß er sie meinte —, »und sollten uns vergewissern, daß diese Leute zurückgebracht werden. Warten wir wenigstens auf den Rettungstrupp.«
Sie wollte das eigentlich nicht, aber ihr Kopf hämmerte, und sie fühlte sich sehr schwach und müde.
»Also gut, Asam. Morgen früh.«
* * *
Obwohl der Pfad gut markiert war, kamen sie beide nur mit Mühe voran. Der Wind schnitt in ihr Fleisch, und selbst die kleineren Traglasten schienen auf jede Wunde und Prellung zu drücken. Asam verzog ab und zu das Gesicht, beklagte sich aber nie, sowenig wie sie selbst. Trotzdem beherrschten düstere Gedanken ihren Aufstieg, vor allem ihre inneren Zweifel an dem, was sie tat. Stand sie wirklich auf der richtigen Seite? Nicht, daß sie auf der Seite des Schachtes stehen sollte, aber warum überhaupt auf irgendeiner?
Sie kannte darauf die Antwort natürlich. Brazil hatte sich geweigert, den Schacht zu reparieren, wenn sie nicht dabei war, wenn sie es nicht ausdrücklich anordnete. Sie fragte sich, wer den Auftrag geben sollte, wenn sie bei diesem irren Kampf ums Leben kommen würde. Vielleicht niemand. Vielleicht würde er einfach in den Schacht gehen, sich im eigentlichen Universum an die Stelle zurückversetzen, wo er gerne sein wollte, und auf die letztendliche Zerstörung warten. Die Verantwortung lag bei ihr, nicht bei ihm. Das hatte er praktisch ausgesprochen.
Sie hatte aber nicht nach dieser Verantwortung verlangt, sagte sie sich, und wollte nichts von ihr wissen. Das war nicht gerecht. Nichts in ihrem ganzen verdammten Leben war jemals gerecht gewesen, aber sie hatte wenigstens darüber zu bestimmen gehabt. Jetzt hatte man ihr sogar das genommen.
Es gab auch Zweifel an ihrer Rolle bei dem Ganzen. Sie sollte sich in ihrem Hex einrichten und auf Anweisungen warten. Das war alles, was man ihr erklärt hatte — das und die Tatsache, daß die Neuzugänge sich später um sie scharen, zu einer vielrassigen Streitmacht werden würden, einer von mehreren, die auf ein Signal hin zu einem bestimmten Ort strömen und sich zu einer ungeheuren Armee vereinigen sollte, vielleicht zu der größten, die man auf der Sechseck-Welt jemals erlebt hatte: eine Armee, aufgefüllt, ernährt und versorgt auf dem Marsch von anderen Hexagons, von anderen Neuzugängen und Diplomaten-Freunden, die, so unterstellte man, mit allem, was gebraucht wurde, jederzeit aufwarten konnten. Das hörte sich verdammt riskant an.
Aber wenn Asam recht hatte, würde Dillia ihr folgen. Im Augenblick würde man ihr folgen — natürlich nicht alle, aber genug für eine beträchtliche Streitmacht. Das war alles, was man von ihr gefordert hatte. Warum war sie in Gedemondas? Auf eine Ahnung hin? Oder lag es am Wunsch ihres Unbewußten, ein unbestimmbares Element ins Spiel zu bringen, damit sie, wie üblich, ihren Einfluß vergrößern konnte?
Eine neue Nacht, eine neue Hütte. Sie fühlten sich besser, schliefen besser, als der Marsch weiterging, und aus der Kameradschaft im Kampf des ersten Tages war echte Übereinstimmung geworden.
Auch das machte ihr Sorgen. Er war Asam, ein großer Mann und guter Freund, gewiß. Aber auch ein Zentaur Dillias, geboren auf der Sechseck-Welt, und aus eben diesem Grund konnte er sie nie verlassen. Sie war nur an der Oberfläche Dillianerin; innerlich war sie immer noch die alte Mavra Tschang, immer noch dieselbe Frau von einer ganz anderen Rasse und, darüber hinaus, einer sehr anderen Zeit und Kultur. Am Ende des Ganzen stand das Unbekannte. Vielleicht kannte Brazil sich aus, aber wo war er?
Читать дальше