Schließlich gelang ihr eine Art Schrei, ein Aufgellen entsetzter Hilflosigkeit. Er mußte sie hören! Er mußte! Er mußte! Sie konzentrierte sich mit aller Kraft auf die dahingehende Gestalt.
Er blieb stehen, schien etwas zu hören, und drehte sich langsam um. Es war das Gesicht von Nathan Brazil, das sie sah, und er starrte nach hinten, wobei er eher gelangweilt als mitfühlend wirkte.
»Brazil! Sie-müssen-mir-helfen!« ächzte sie und streckte die Hand nach ihm aus.
Er lächelte, zog eine Münze heraus und warf sie ihr zu.
»Gern zu Diensten«, erwiderte er leichthin. »Jederzeit. Muß jetzt gehen. Ich bin Gott, wissen Sie. Zuviel zu tun…« Er wandte sich von ihr ab und schritt in den Nebel hinein, ohne ihre qualvollen Schreie zu beachten; dann verschwand er in dem wirbelnden, milchigen Strudel und war nicht mehr zu sehen.
Sie war allein, wieder allein mit der Flüssigkeit und dem Grauen, das an ihr vorbeischwebte, sie verhöhnte, auf sie einhieb. Allein.
»Helft mir!« schrie sie zu, sie wußte nicht, wem. »Hilft mir denn keiner?«
Gestalten tauchten auf, gütig aussehende menschliche Gestalten. Ein gutaussehender Mann im mittleren Jahren und eine unfaßbar schöne Frau. Sie streckten die Arme nach ihr aus, winkten sie zu sich heran, bedeuteten ihr, sie möge zu ihnen laufen, um Schutz zu finden. Sie wollte auf sie zu, aber plötzlich quoll ein mächtiger schwarzer Schatten aus dem Strudel herauf und schob sich zwischen sie und das Paar. Ein riesiger, engelhafter Umriß in weiß-wallendem Gewand, lächelte das Wesen sie an, während es selbst die Arme weit ausstreckte.
Sie zögerte, dann begann sie sich zu nähern, aber die gütige Gestalt erlebte eine grauenhafte Verwandlung, veränderte sich von ihrer menschlichen Vollkommenheit in ein fürchterliches, häßliches Froschwesen, das lallte und sabberte und sich von ihr abwandte, um ihre Eltern in der Ferne zu verschlingen, wobei es gellend lachte.
Sie fühlte, wie sie hinabstürzte, immer tiefer hinab in eine Art Grube; auch diese war erfüllt von der Flüssigkeit, die jetzt der Fäulnis verrottenden Abfalls glich.
Sie wehrte sich noch stärker gegen den giftigen Gestank, streckte die Hände aus, um irgend etwas zu packen, aber da war niemand, überhaupt niemand. Sie versank immer tiefer in Schleim und Dreck, und die grausigen Wesen umschwebten sie immer noch lachend, höhnend, witzelnd und zustoßend.
Ein hart aussehendes, fahlgelbes Gesicht mit fast weißen Haaren erschien am Rand, lächelte sie an und streckte eine Hand hinunter. Aber die Hand verrottete, als Mavra sie berührte, wurde zu einer Skeletthand.
Die Infektion verzehrte schließlich die alte Frau ganz, und als das geschehen war, fühlte sie sich noch tiefer in Schleimschichten versinken. Sie war immer überzeugter davon, daß sie ewig in dieser bodenlosen Grube von Qual und Fäulnis bleiben mußte.
Nun tauchte ein anderes Gesicht auf, ein gütiges Gesicht, ein Gesicht, das für alle Rassen der Alten Erde bezeichnend war, ein gutaussehendes Gesicht, das Hilfe zu bringen versprach. Er streckte die Hand aus und ergriff sie, zog sie herauf aus Schmutz und Schlamm, und einen Augenblick lang glaubte sie frei zu sein. Sie konnte vor sich Luft sehen und Sterne, Millionen funkelnder, flackernder Lichter, überall vor ihr ausgebreitet.
Dann kam ein Geräusch, eine laute Explosion irgendwo in ihrer Nähe, und als sie voller Entsetzen wieder hinsah, schien das Gesicht ihres Retters zu zerspringen, in grotesker Weise zu explodieren, und der Griff löste sich.
»Gimball!« kreischte sie. »Nein! Nein! Mein Mann… «
Aber er war fort und sie war wieder allein, versank wieder im Unrat, nie frei von der strudelnden Flüssigkeit, und es schien, als genossen die schnatternden Wesen das jetzt um so mehr.
Schwarze Umrisse näherten sich, fesselten sie, zerstückelten ihren Körper, machten sie zu einem mißgestalteten, hilflosen Ungeheuer. Noch immer wehrte sie sich, kämpfte gegen die dunklen Kräfte an, die sie tiefer und immer tiefer in den Kot hineinzogen. Ein anderes Wesen, verunstaltet, verstümmelt wie sie, näherte sich, als die Geschöpfe, die sie umkreisten, herandrängten, um sie zu ersticken. Ein Dämon hob den Speer und stieß ihn auf sie zu, den Blick von Haß erfüllt, aber das andere Wesen warf sich dazwischen, ergriff den Speer und verschwand ebenfalls in der Fäulnis.
Ein violettes Licht brach durch den Unrat, und sie hörte Obies Stimme, die nach ihr rief. Sie erreichte das Licht.
»Ich bin dein Zaubergeist«, erklärte er ihr. »Wo im Universum willst du hingehen?«
»Überallhin!« rief sie, und in blitzschnell vorbeizuckenden Szenen tat sie es. Und doch stimmte dabei etwas auf furchtbare Weise nicht. Jeder Ort, den sie besuchten, wies noch mehr von der fauligen Scheußlichkeit auf, der sie sich entronnen geglaubt hatte. An jedem Ort wurde es immer mehr stinkender, faulender Abfall.
Das violette Licht verglomm, und wieder stand Nathan Brazil vor ihr. Er zog die Schultern bedauernd hoch und lächelte sie schief an.
»Na, was haben Sie erwartet?« fragte er. »Schließlich habe ich das alles nach meinem Bild geschaffen.«
Und da waren nur noch die wirbelnde, verschlingende Flüssigkeit und der Gestank und die Fäulnis, die Empfindungen von Eiseskälte und sengender Hitze, der Schmerz, und nichts sonst. Nichts. Nichts.
Allein. Sie war allein. Für immer allein im Schlamm… Sie haßte den Schlamm, haßte den Gestank, und vor allem haßte sie ein von Leben wimmelndes Universum, in dem sie so völlig, so absolut allein sein konnte. Wenn das Universum so eingerichtet war, dann war es besser, wenn es vernichtet wurde, dachte sie wild. Weg mit dem Schmutz, hinaus mit dem Abfall, rein und sauber, säubern… Aber so leer jetzt, so allein, so völlig allein…
Doch auf irgendeine Weise war sie nicht allein, nicht jetzt, nicht in diesem Augenblick. Sie hatte den Eindruck, daß jemand sie umarmte, Wärme und Fürsorge übertrug, ihr erklärte, alles sei gut, es sei jemand bei ihr. Sie mühte sich mit aller Kraft, die Augen zu öffnen, um zu sehen, wer oder was das sein mochte, und das gelang ihr schließlich auch, aber die Welt wollte keine scharfen Umrisse annehmen. Eine Gestalt, nur eine Gestalt, nicht mehr, nicht weniger. Eine Gestalt, die sich sorgenvoll und fürsorglich herabbeugte. Ein wettergegerbtes, hartes, gutaussehendes Gesicht, dessen Augen uralte Weisheit und Güte verrieten, die er zu verbergen versuchte, was ihm aber nicht gelang.
Plötzlich fühlte sie sich unendlich müde, unendlich verbraucht, und sie sank zurück, nicht ins Koma, nicht in den Schlamm, sondern in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
* * *
Sie erwachte, schaute sich dumpf um und versuchte sich zu bewegen. Sie lag in einer Art Gurtzeug und konnte sich davon nicht ganz befreien.
Im Kamin knisterte ein Feuer. Zwei von der Gruppe befanden sich wie sie in Schlafställen, gestützt durch kompliziertes, aber offenkundig provisorisch angebrachtes Gurtzeug aus Gürteln, elastischen Bändern, Pelzstreifen, allem gerade Verfügbarem.
Zwei andere Zentauren gingen herum. Einer legte im Kamin nach und blickte in einen Topf, der andere stand an einem kleinen Tisch und überflog irgendwelche Papiere. Auch die beiden schienen körperlich nicht in der besten Verfassung zu sein; der am Feuer, übersät mit Verbänden und tiefen Narben, schonte sein rechtes Vorderbein, der andere am Tisch war Colonel Asam, dessen humanoider Rumpf mit angeschwollenen Striemen übersät war. Auch er trug an verschiedenen Stellen seines Körpers glatte Verbände.
»Asam?« rief sie und nahm selbst wahr, wie schwach ihre Stimme klang. »Asam, was ist geschehen?«
Die beiden Männer drehten sich um, und der Colonel kam rasch auf sie zu, ein Lächeln im Gesicht. Eines seiner Augen war fast völlig zugeschwollen, sein Gesicht war so zerschlagen und verquollen, daß sie erschrak, aber er lächelte, griff in einen Beutel und zog eine Zigarre heraus.
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