„Das hat doch schon jemand vorgeschlagen…“
„Jemand! Du bist es gewesen. Es muß so gemacht werden, und dann wird auch das ›Ahornblatt‹ voll zur Geltung kommen!“
„Geht dich das jetzt noch was an?“
„Auch wahr! Entschuldige. Ich komme sonst zu spät.“
„Du wirst nicht zurückkommen?“
„Um keinen Preis!“ Aber seine Stimme klang nicht sehr überzeugt. „Margrad soll ruhig so bleiben, wenn es ihm gefällt.“
„Falls du trotzdem zurückkommst, werde ich bei mir keine Arbeit für dich haben. Denk dran“, warnte Sidorow seinen ehemaligen Vorgesetzten und ging weiter, ohne sich zu verabschieden. Perepelkin nahm seinen Koffer wieder in die andere Hand. Er war noch keine zehn Schritte gegangen, als aus dem Geschäft sein Vetter Smetannikow leicht angeheitert herauskam. „He, Witalka, zum Teufel!“ rief er. „Komm, auf ein Gläschen!“
„Weißt du, Petja“, antwortete Perepelkin, „ich muß zum Bahnhof. Es ist nicht mehr viel Zeit.“
Beide standen da und wußten nicht, was sie einander noch sagen sollten. Da hatte Perepelkin plötzlich einen Einfall. „Hör mal zu, Petja. Wie wär’s, wenn du mit zum Bahnhof kämst?“
Smetannikow überlegte einen Augenblick, holte Kleingeld aus seiner Tasche, zählte es und sagte entschlossen: „Ich komme mit.“
Perepelkin begriff allmählich, daß es ihm allein nicht gelingen würde, um diese unglückselige Ecke herumzukommen. Er beschloß deshalb, sobald sie an diese Stelle kämen, sich bei seinem Vetter am Arm festzuhalten, die Augen zu schließen und auf diese Weise doch noch zum Bahnhof zu gelangen.
Smetannikow hatte begonnen, Perepelkin irgend etwas zu erzählen, aber der hörte ihm äußerst unaufmerksam zu, nur hin und wieder gab er an unpassenden Stellen ein „Jaja, hm“ von sich.
Nächtelang hatten sie mit der ganzen Gruppe zusammengesessen, Margrad auf dem Papier rekonstruiert und neue Stadtviertel erbaut. Sie hatten eine sehr schöne Stadt entworfen.
Sogar in Moskau hatte man darüber gestaunt. In Margrad selbst waren Worte der Anerkennung gefallen, aber weiter war man nicht gegangen. Jede Wohnung in einem Haus vom Typ
„Geöffnete Hand“, „Gleitende Fläche“, „Himmelblaue Kerze“, „Ahornblatt“, „Aufprallende Welle“ war um fünf Prozent teurer als die allgemein übliche Standardwohnung. Woher aber sollten diese fünf Prozent genommen werden?
In Margrad war ein neues Dieselmotorenwerk im Bau, und Tausende von Wohnungen wurden gebraucht. Schnell und termingemäß. Da war überhaupt nicht an „Ahornblatt“ zu denken. Das war immer so. Erst wenigstens irgend etwas, später dann etwas Besseres, das aber gerade dieses „Irgend etwas“ verdrängte. Perepelkin hatte den Beweis angetreten, daß man nach zehn Jahren diese grauen Ungetüme sowieso abreißen müsse, dann aber würde der Staat nicht mehr mit nur fünf Prozent davonkommen. Man hatte ihm zugestimmt, jedoch eingewendet, daß dies immerhin erst in zehn Jahren eintreten werde und nicht jetzt. Die Wohnungen jedoch wurden sofort gebraucht. Und was war mit den fünftausend Familien, die in Margrad in Kellern und kellerähnlichen Räumen wohnten? Ihnen war im Moment ganz und gar nicht nach
„Gleitender Fläche“ zumute!
Fünf Jahre lang hatte sich Perepelkin herumgeschlagen und Beweise angetreten. Nun aber ging er fort nach Ust-Mansk, weil dort ein neues Wohngebiet aus Häusern vom Typ „Turm“
und „Messer“ geplant war. Natürlich kein „Ahornblatt“, aber immerhin etwas Verwandtes. Vielleicht würde es später auch gelingen, die „Geöffnete Hand“ zu bauen.
Perepelkin war es müde geworden, weiter zu überzeugen, und nun ging er fort aus Margrad, so wie man zornig und gekränkt von einem Menschen weggeht, der einen nicht versteht, um sich jedoch im nächsten Augenblick anders zu besinnen und wehmütig zu erkennen, daß eine Rückkehr bereits unmöglich geworden ist.
Bis zum Bierausschank waren es noch ungefähr dreißig Schritte. Perepelkin klammerte sich mit eisernem Griff an seinen Vetter, der etwas vor sich hin trällerte und gelegentlich Erläuterungen dazu gab. Bis zur Ecke waren es noch zwanzig Schritte, fünfzehn. Aber in diesem Moment erblickte Smetannikow seine Frau. Auch Perepelkin sah sie. Und sie hatte sie beide erkannt, aber bedeutend eher, denn sie stand wie ein Feldherr da mit gespreizten Beinen, die schweren Fäuste in die Hüften gestemmt.
Smetannikow hatte nur leise gepfiffen, sich von Perepelkin losgerissen und war blitzschnell in die entgegengesetzte Richtung verschwunden. Seine Frau war ebenfalls losgestürmt. Ein scharfer Wind hätte Witali fast zu Boden geworfen. Bedächtig, wie im Halbschlaf, gelangte er an die Ecke. Dahinter lagen das Feinkostgeschäft und die Schwellenholzstraße.
Perepelkin biß die Zähne zusammen. Bis zur Abfahrt des Zuges verblieben noch zwanzig Minuten. Wie der Blitz eilten Smetannikow und seine Frau an ihm vorüber. Schon mit halbem Blick wurde klar, daß Smetannikow auch nicht eine Sekunde mehr bereit war, sich als Lotse zur Verfügung zu stellen.
Perepelkin erspähte ein freies Taxi und trat auf die Fahrbahn.
„Zum Bahnhof, ich komme zu spät!“ flehte er eindringlich.
„Einsteigen.“ Der Taxifahrer öffnete den Wagenschlag.
Der Wagen wendete hastig. Perepelkin war außer Atem und holte mehrmals tief Luft. Nun könnte ihn die Kreuzung bestimmt nicht mehr aufhalten. Ein Taxi war doch eine ganz andere Sache. Auf welche Weise ihm das Taxi helfen sollte, war ihm allerdings nicht klar, aber jedenfalls war er davon überzeugt, daß dieses Mal alles gut gehen würde. Der Fahrer bog nach rechts ab. Perepelkin kniff die Augen zusammen. Die Bremsklötze quietschten laut, der Fahrer fluchte. Witali öffnete voller Schrecken die Augen. Das Taxi stand am Feinkostgeschäft. „Es ist schiefgegangen“, murmelte Witali vor sich hin.
„So ein Mist“, fluchte der Chauffeur. „Ich bin doch schließlich nüchtern!“
„Versuchen Sie es noch mal“, flehte Perepelkin.
Das Taxi kehrte auf die Fahrbahn zurück und raste zur Kreuzung. Vor der Kurve senkte der Fahrer die Geschwindigkeit.
Erneutes Quietschen der Bremsen. Der Wagen stand vor dem Feinkostgeschäft. „Können Sie das verstehen?“ fragte der Chauffeur erschrocken.
„Ich verstehe es“, antwortete Perepelkin, „jetzt verstehe ich alles.“
Er bezahlte und stieg aus. Der Chauffeur saß mit bleichem Gesicht da und lehnte es gleich darauf ab, einen anderen Fahrgast zum Flughafen zu fahren.
Perepelkin begriff alles. Die Stadt wollte ihn nicht freigeben.
Aber warum wohl? Jahrelang hatte er versucht, die Stadt schöner zu machen, und nur Tadel und Rügen dafür einstecken müssen. Er ging jetzt wieder geradeaus. Wenn er sich beeilte, konnte er den Zug noch erreichen.
Beim Laufen überlegte er, daß die Stadt vergeblich versuche, ihn zu halten. Er war müde, hatte alles gründlich satt, doch in Ust-Mansk würde er zumindest ein Quentchen seines Traumes von der Stadt in Weiß und Hellblau verwirklichen können. Gib mich frei! Sidorow und die gesamte Gruppe waren schließlich auch noch da. Sollten sie jetzt mal Klinken putzen und Beweise liefern. Gib mich frei! Zurückkehren konnte er ja sowieso nicht mehr, nachdem er sich in der Abteilung des Chef-Architekten einen donnernden Abgang verschafft hatte. Selbst wenn er bliebe, konnte er nichts mehr ausrichten. Als was sollte man ihn denn beschäftigen? Als Techniker? Als Ingenieur? Sogar als Bereichsleiter würde er nichts mehr schaffen können.
Gib mich frei!
Perepelkin hatte beinahe Tränen in den Augen, als er um die Ecke bog. Auf dem Bahnhofsvorplatz wimmelte es von Menschen. Auf dem Prospekt der Rationalisatoren klingelten Straßenbahnen, alte Frauen boten prächtige Blumensträuße an.
Reisende wurden abgeholt oder zum Zug begleitet, Koffer transportiert, Körbe mit Gemüse und Früchten geschleppt; überall war Lärm und Tumult.
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