„Was die Parameter der Gemma angeht…“, wollte der junge Astronom erläutern, doch man ließ ihn gar nicht zu Wort kommen.
„Das ist ja eine völlig unmögliche Sache.“ Damit hatte ihm der Physik-Theoretiker das Wort entzogen. „Sterne kann es auf der Erde überhaupt nicht geben!“
„Oho! Dieses Ding ist auch noch glühendheiß!“ rief der Astronom, der den Stern berührt und sich die Finger dabei verbrannt hatte.
„Elftausend Grad an der Oberfläche“, sagte ER.
Und wo haben wir hier eine Kiste mit Sand? dachte der Feuerwehrmann a. D. fieberhaft, goß sich ein weiteres halbes Gläschen ein, aber trank es nicht aus.
„Das sind nicht elf Grad, sondern es werden immerhin fünfzig Grad sein.“
„Elftausend Grad und nicht elf“, korrigierte ER.
„Jetzt übertreibst du aber sehr“, ließ sich der Astronom beleidigt vernehmen.
„Ihr wollt mir nicht glauben?“ fragte ER und griff nach einer Gabel. „Schaut mal her!“ ER berührte die glitzernde Kugel mit der Gabel, und diese verschwand. „So ist das! Bei dieser Temperatur muß sie sich in Nichts auflösen!“
Der Physik-Theoretiker ging weg vom Tannenbaum, nahm eine Serviette vom Tisch und fing stirnrunzelnd an zu schreiben.
Der Nachbar, ehemaliger Feuerwehrmann, erhob sich von seinem Platz, stützte die Hände auf dem Tisch auf und brachte warnend und besorgt hervor: „Das kann sich entzünden, in Brand geraten!“
„Aber nicht doch, was reden Sie denn da!“ widersprach SIE.
Der Nachbar ächzte, trank sein halbes Gläschen aus, schüttelte unzufrieden den Kopf und ging auf den Korridor hinaus.
„Hier habt ihr alles!“ ließ sich der Physik-Theoretiker vernehmen und kam hinter dem Tisch hervor. „Das ist die Formel, das ist das Ergebnis. Bei dem Verschwinden der Gabel, bei ihrem praktisch blitzschnellen Verdampfen und Auflösen, hätte es eine Explosion geben müssen. Wo war sie? Ich möchte gern von euch hören, wo war die Explosion?“
„Aber was das Verhältnis von Gabel und Stern betrifft“, sagte ER, „so hast du dich bei der Masse des Sterns um einundzwanzig Stellen versehen. Rechne mal nach!“
„Ich habe die Masse dieser Kugel hier genommen“, verteidigte sich der Physik-Theoretiker. „Wieviel wird sie wohl wiegen? Ein Kilo vielleicht.“
„Wieso ein Kilo? Es handelt sich schließlich um die Masse eines Sternes!“
„Laß doch mal diese Scherze“, meinte der Physiker ungläubig und wollte die Gemma hochheben. Das gelang ihm nicht.
Der Astronom kam ihm zu Hilfe, aber beide zusammen konnten ebenfalls nichts ausrichten. „Ist ja wirklich ein außerordentlich schweres Stück. Seine hundertfünfzig Kilo wird es haben!“
„Warum kann aber dann der Baum diese Last aushalten?“
fragte unvermutet die Physikerin.
„Ja, in der Tat, wieso eigentlich?“ Der Physiker und der Astronom schauten einander erstaunt an.
„Haben wir nun den Stern deshalb hier in unser Zimmer gebracht?“ fragte SIE IHN. „Wir wollten doch nur, daß es bei uns herrlich, wunderschön, ungewöhnlich und seltsam ist! Und nun diese Gespräche… Sie werden noch versuchen, ihn zu öffnen!“
„Irgend so ein Scherzartikel, das ist alles“, meinte der Astronom.
„Und ich habe gedacht, ihr habt das gekauft“, atmete die Physikerin erleichtert auf und lächelte.
„Tanzen wir lieber!“ schlug ER vor. „Noch nie hat jemand auf der Erde in einem Zimmer getanzt, das von einem Stern erleuchtet wird.“
„Ich möchte aber lieber im Finstern sein“, sagte die Frau des Astronomen beharrlich und trotzig.
In diesem Augenblick kam der Nachbar mit einem Eimer Wasser ins Zimmer, machte zu allen eine beruhigende Handbewegung, stellte den Eimer neben dem Baum ab und sagte dann belehrend: „Feuer verhüten ist stets leichter als es löschen. Ich bitte das zu berücksichtigen.“
Alle begaben sich wieder an den Tisch zurück. Die Frau des Physikers deshalb, weil es kein Gegenstand, kein Artikel, sondern irgend so ein Stern war; der Astronom, weil er nicht an Wunder glaubte; der Physiker, weil er sich betrunken wähnte, und wenn dem nun einmal schon so war, weshalb sollte er dann nicht gleich weitertrinken; der ehemalige Feuerwehrmann deshalb, weil er nun alles getan hatte, was in seinen Kräften stand, um eine Feuersbrunst zu verhüten. Die Frau des Astronomen war überhaupt nicht erst vom Tisch aufgestanden.
Fünf Minuten später hatte man die Gemma völlig vergessen.
Alle hatten sie vergessen, außer IHM und IHR. SIE drehte sich heimlich um, damit SIE den Stern aus den Augenwinkeln betrachten konnte. Der ehemalige Feuerwehrmann goß ein halbes Gläschen ein und stellte es vor SIE hin.
„Wieso? Das trinke ich nicht“, sagte SIE.
„Sollst du auch nicht“, entgegnete der Nachbar in schulmeisterlichem Ton. „Du brauchst es gar nicht zu trinken. Setz dich auf meinen Platz, und ich setz’ mich auf deinen. Ich habe es ja auch nur für mich eingeschenkt. Dir kommt es bloß in die falsche Kehle. Der gute Tropfen! Er geht einem durch und durch!“
Sie tranken auf das Glück, auf die Erfüllung von Wünschen, sie tanzten. Auch die Frau des Astronomen tanzte. Sie tanzte sehr gut. Sogar der ehemalige Feuerwehrmann stellte zu seiner eigenen Verwunderung fest, daß er einen Twist nicht schlechter hinlegte als die Jugend. Auch der Walzer „Amurwellen“
wurde aufgelegt. Abwechselnd wurde, von den Gästen immer jemand wieder nüchtern oder betrunken, so daß die lärmende Gesellschaft beständig komplett war. Es ging lustig und beschwingt zu. Kein Mensch dachte mehr an die unglückselige Gemma, die beinahe den ganzen festlichen Abend verdorben hätte.
Gegen sechs Uhr morgens ging man auseinander. ER begleitete die Gäste, und SIE machte es sich in einem Sessel bequem, zog die Beine an und betrachtete die sich langsam drehende Kugel. Über IHR Gesicht huschten die Schatten ungewöhnlicher Gedanken, ein Lächeln glitt darüber hin und verlieh ihm den rätselhaften Ausdruck von Traum und Glück. SIE
erhob sich, nahm die Gemma ohne besondere Anstrengung auf den Handteller, ohne sich dabei zu verbrennen. Zuweilen lösten sich von der Oberfläche des Sterns gigantische Protuberanzen, berührten sacht IHR Gesicht und spiegelten sich als helle Blitze in den Pupillen wider. Der Strom der alles durchdringenden Neutrinos kam aus dem Inneren des Sterns; er verlöschte gehorsam, sobald er IHR trauriges und gleichzeitig frohes Lächeln gestreift hatte.
Als ER zurückkam, hatte SIE das Juwel gegen die Brust gedrückt und fragte: „Ist schon alles zu Ende?“
„Ja“, entgegnete ER. „Es ist Zeit. Hat er dir gefallen?“
„Hat mir sehr gefallen. Ich möchte noch mal mitkommen.“
„Komm, wir fliegen los!“
„Ich werde ihn selbst tragen.“
Sie traten auf die Straße und gerieten in einen sich rasch auflösenden Nebel hinein.
Der Physik-Theoretiker fiel sofort in tiefen Schlaf, als er daheim angekommen war. Als er aufwachte, dachte er: „Was man doch nicht alles zu sehen glaubt, wenn man einen über den Durst getrunken hat!“
Der Astronom kontrollierte am nächsten Tag die Aufnahmen des Sternenhimmels, die von einem künstlichen Satelliten der Erde vorgenommen worden waren. Die Gemma war im Sternbild der Nördlichen Krone in dieser Nacht nicht auffindbar.
Der Astronom kicherte freudig in sich hinein und beschloß, eine Dissertation über einmalige Veränderungen in der Leuchtkraft einiger Sterne zu schreiben. Das Material dafür hatte er bereits. Seine Frau meinte, das Essen bei diesen wunderlichen Käuzen sei nicht genügend sättigend gewesen.
SIE schwebten zwischen den Sternen umher, bis SIE schließlich den Platz gefunden hatten, von dem SIE die Gemma weggenommen hatten. SIE gab den Stern aus IHREN Händen frei.
Er wurde unablässig größer und erlangte wieder sein ursprüngliches Aussehen. ER rechnete sich im Kopf die Geschwindigkeit der Gemma aus, hob sie in die Höhe und stellte sie auf sechs Millionen Kilometer ein. Jetzt war alles wieder in Ordnung.
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