SIE hatten sich noch nicht schlafen gelegt, als der ehemalige Feuerwehrmann noch einmal an IHRE Wohnungstür klopfte.
„Habt ihr das seltsame Ding schon wieder auf seinen Platz zurückgebracht?“ fragte er. „Ich wollte es nur mal meinem Enkelkind zeigen. Eine spaßige Sache ist das, so ein Stern! Das ist nicht jedem beschieden, einen davon so ganz aus der Nähe, wie in der offenen Hand, zu sehen.“ Und dabei spreizte er seine verknöcherten fünf Finger.
„Ja, wir haben ihn schon zurückgebracht, Großväterchen“, sagte ER. „Alle sollen die Sterne sehen.“
„Na, dann ist ja nichts mehr zu machen, auch gut. Nur, wenn ihr noch nicht… aber ihr habt bereits… wollt’s nur dem Enkelkind zeigen…“
„Wir werden es ihm bestimmt mal zeigen“, versprach ER, und der Nachbar glaubte es IHM.
Ein Spätwintertag begann.
„Schade“, meinte SIE.
„Was denn?“ fragte ER.
„Es ist wundervoll gewesen. Am liebsten möchte ich jetzt weinen, warum nur?“
„Dann wein, ich stell dir meine Schulter dafür zur Verfügung.“
Doch SIE weinte nicht.
„Morgen werden wir uns etwas anderes ausdenken“, versprach ER.
„Aber das ist erst morgen!“ sprach SIE traurig.
„Morgen hat doch schon angefangen!“ rief ER aus, und beide freuten sich darüber.
Von Beruf war ER ein schlichter Physik-Theoretiker, nicht einmal Doktor der Naturwissenschaften. SIE unterrichtete in der Schule Geschichte der Alten Welt. SIE waren beide Sonderlinge und vermochten es, Wunder zu vollbringen. Nur schenkte man IHNEN wenig Glauben.
SIE aber machten das nur einfach so aus Freude — und nicht, damit man IHNEN glauben sollte…
Das kleine Mädchen war aufgewacht, aber es rührte sich nicht, nur die Ärmchen ließ es baumeln. Die Stille hatte es aufgeweckt, eine Stille, die es allein im Traum gab. Nun öffnete das Mädchen vorsichtig die Augen und sah das Gesicht der Mutter über sich.
Es war noch nicht Morgen, im Osten war es kaum hell. Ein
„Was ist mit dir, Töchterchen?“
Das Mädchen streckte seine Ärmchen der Mutter entgegen und umarmte sie. „Schön zu Hause…“
„Ja, schön. Schlaf weiter. Es ist noch früh.“
„Ich will nicht schlafen. Da ist es so still, dann wird alles leer, und ich wache auf.“
„Möchtest du, daß ich bei dir sitzen bleibe?“
„Ja, setz dich her und sing mir ein Lied vor. Weißt du, was du mir vorgesungen hast, als Papa die Scheinwerfer repariert hat und ihm ein Rohr kaputtgegangen ist, so daß er nicht zu uns zurückkommen konnte? Sing vom allergrößten Haus!“
„Ich werde etwas anderes singen, vom Wald und von der Sonne!“
„Das andere kannst du wohl nicht mehr?“
Die Mutter schüttelte kaum merklich den Kopf und strich dem Mädchen übers schwarze Haar, das sich über das Kopfkissen schlängelte. Sie hatte das Lied nicht vergessen. Sie hatte es nie kennengelernt. Überhaupt wußte sie so gut wie gar nichts von den Dingen, die ihre Tochter betrafen. Gab es eigentlich jemanden, der sich da auskannte? Die Mutter empfand ein Schuldgefühl gegenüber ihrer kleinen Tochter.
„Mach die Augen wieder zu, mein Liebling. Ich werde sehr, sehr leise singen. Denk an gar nichts. Hör nur zu!“
Die Mutter sang. Sie hatte eine tiefe, gefühlvolle Stimme.
Wahrscheinlich liebte sie dieses Lied ganz besonders. Das kleine Mädchen legte die Arme unter den Kopf und blickte der Mutter unverwandt in die Augen. Sie senkten ihre Blicke ineinander. Eine von ihnen sang, und die andere lauschte und schwieg. Mit einem Male wurde der Mutter klar, daß das kleine Mädchen nicht sie ansah, sondern durch sie hindurchblickte, daß es mit seinen Gedanken gar nicht auf dieser blumenumrankten Veranda war, sondern irgendwo weit weg…
Ein kaum hörbares, gewohntes Ticken. Man ist so sehr daran gewöhnt, daß es furchtbar wäre, wenn es aufhörte. Ohne dieses Ticken herrschte absolute Stille. Das freundliche Ticken stammt vom Indikator, der das normale Funktionieren aller lebenswichtigen Systeme im Raumschiff anzeigt. Das kleine Mädchen sitzt in einem tiefen Sessel neben dem des Vaters und spielt mit einer selbstgebastelten Puppe. Die Mutter hat dem Mädchen die Puppe aus Stoffresten ihrer alten Kleider genäht, die für die Kleidung der Kleinen nicht getaugt hatten.
Der Vater wirft unzufriedene Blicke auf die Indikatoren der Apparaturen, gibt immer wieder neue Zahlenkolonnen in den Computer ein, verändert das Programm, und wenn er die Antwort erhalten hat, stellte er ein neues zusammen. Der Rundsichtschirm ist nur etwa ein Drittel geöffnet, die trüben Pünktchen der Sterne sind darauf zu sehen. Dorthin, zu einem dieser Pünktchen, ist das Raumschiff unterwegs.
„Dort ist unser Haus“, sagt plötzlich das kleine Mädchen.
„Ja, meine Kleine. Dort ist unser Haus.“
Das Mädchen zeigt aus Gewohnheit in die Mitte des Bildschirms. Das haben ihm die Eltern beigebracht. Doch das war früher. Im Moment weist der kleine Finger auf irgendeinen Stern, der sich gerade dort befindet. Der Vater hatte dem Mädchen nicht gesagt, daß das Raumschiff seine Richtung verloren hatte. Das brauchte es nicht zu wissen. Es würde ohnehin nichts begreifen.
„Elfa, ist das nicht langweilig für dich, hier zu sitzen?“
„Nein, Pa. Ich lerne, wie man Kapitän eines riesengroßen Raumschiffes wird.“
Nein, mein Töchterchen, ich gebe mir alle Mühe, damit du niemals von der Erde wegfliegst, denkt der Vater.
Die Mutter schläft. Sie hat vier Stunden Schlaf. Dann sind sie alle vier Stunden lang beisammen. Danach schläft der Vater vier Stunden; Elfa gleichfalls. Während dieser Zeit wird die Mutter sich den Kopf darüber zerbrechen, wie man das Raumschiff zur Erde zurückbringen kann.
Die Tür ist geöffnet, auf der Schwelle steht die Mutter. Oh, wie wunderschön ist sie gekleidet! Nie trägt sie das gleiche zweimal, immer wieder läßt sie sich etwas Neues einfallen.
Das Haar der Mutter fällt über die Schultern, ein schmaler goldener Reif erglänzt auf ihrer Stirn. Jetzt gleicht sie vollkommen der guten Fee aus dem Märchen.
Das Mädchen spricht dies auch aus: „Bist du jetzt die Fee?“
„Sie ist unsere Fee“, bestätigt der Vater erfreut. „Stimmt’s?“
„Ja, stimmt!“
„Wenn es stimmt“, sagt die Mutter, „dann schließt mal eure Augen.“
Der Kapitän und seine kleine Tochter schließen die Augen, und plötzlich hat sich in ihren Händen ein Apfel eingefunden.
Elfa jauchzt entzückt auf. Aber der Vater flüstert unverständlich vor sich hin. Er scheint sogar etwas böse zu sein.
„Hast du wieder nicht geschlafen?“
„Doch, ich habe geschlafen. Später war ich mal in der Orangerie.“ Sie blickt ihn bittend an. „Ist etwas?“
„Nein.“
Die Mutter scheint gern zu singen. Es ist schon fast vollkommen hell geworden, aber sie streicht mit ihren langen, zarten Fingern immer noch über das Haar des Mädchens und singt. Sie singt von lustigen kleinen Tieren und von Bächlein, himmelblau und silberklar. Das kleine Mädchen richtet sich mit einem Male halb auf. „Mama, du hast gesagt, unser Haus wird eine himmelblaue Decke haben — und eine schwarze.“
Fast hätte die Mutter zurückgefragt: Das hab’ ich wirklich gesagt? doch sie beherrscht sich noch rechtzeitig. „Richtig, wir werden eine himmelblaue Decke haben. Und nachts, wenn es dunkel ist, wird sie schwarz sein.“
„Mit kleinen Lichtern?“
„Mit Lichtern? Aber natürlich, mit kleinen Lichtern.“
„Und an der himmelblauen Decke werden weiße Locken ziehen?“
„Ja“, stimmte die Mutter zu und überlegte, daß sich das wohl machen ließe.
„Und manchmal wird die Decke mittendurch zerreißen?“
„Alles wird so sein, wie du es haben willst.“
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