Warum sollte man die Menschen unnütz aufregen? Die Schönheit der Wega hatte SIE derart beeindruckt, daß SIE schon sagen wollte: Den nehmen wir! doch ER zog SIE am Arm und sprach: „Ich weiß, was du brauchst! Laß uns hinfliegen!“
Abermals entfernten sie sich von der Sonne. Ihre elastischen Körper durchschnitten die Kälte des Nichts, in dem es Myriaden glitzernder kleiner Strahlen gab.
„Möchtest du das Juwel aus der Krone?“ fragte ER.
„Meinst du?“ SIE freute sich. „Natürlich möchte ich!“
Ein Parsek von dem Stern entfernt hielten sie an. Der Stern strahlte angenehme Wärme aus, und ER bemerkte auf dem Gesicht der Freundin ein Aufglänzen von Begeisterung und höchster Verwunderung. Es war dies der Widerschein des Sternes, dem sie entgegensteuerten.
„Das ist wirklich das Juwel“, sagte SIE leise. „Ich sehe, es ist Gemma!“
„Ja, die Gemma“, entgegnete ER schlicht.
„Die werden wir mit zu uns nehmen!“
Inzwischen waren SIE dicht an das Juwel der Nördlichen Krone herangekommen. IHRE Augen wurden groß und weiteten sich vor Schreck beim Anblick dieser glühenden Masse von Materie. ER flog noch näher an den Stern heran, und bald darauf hielt ER ihn auf SEINEN emporgestreckten Händen.
„Du verbrennst dich ja!“ rief SIE. „Wir hätten wenigstens Handschuhe einstecken können!“
„Was für ein Unsinn“, meinte ER lachend und stieß die Gemma aus ihrer seit ewigen Zeiten bestehenden Umlaufbahn heraus.
„Sie ist aber für unser Zimmer wohl doch etwas zu groß!“
„In unserem Zimmer läßt sich eine ganze Galaxis unterbringen“, sagte ER lachend und drückte dabei den Stern zu einer kleinen Kugel zusammen.
„Ohne ihn ist es hier gar nicht schön“, sagte SIE traurig.
„Wir bringen ihn morgen früh zurück. Es ist ja nur für eine einzige Nacht.“
„Ja, nur für eine Nacht“, stimmte SIE betrübt zu.
Auf der ausgestreckten linken Hand hielt ER das glühende Juwel, die Rechte umschloß fest IHRE Hand.
Den Rückweg zur Erde legten SIE in fünfzehn Minuten zurück. Über Sibirien lag eine klirrende Kälte von vierzig Grad, Nebel hatte das Gebiet auf Tausende von Kilometern eingehüllt.
Unmittelbar aus dem Nebel waren sie von oben direkt vor ihrem Hauseingang aufgetaucht. Sie konnten nicht bremsen und kamen einem Mann in die Quere, der in Pelzstiefel, Pelzpaletot und Fellmütze eingemummt war. Der Mann fiel hin; eine Wodkaflasche, Marke „Stolitschnaja“, und eine Flasche Sekt rollten mit verräterischem Klirren auf dem festgetretenen Schnee.
„Das neue Jahr hat noch gar nicht angefangen, und die laufen schon betrunken umher“, brummte der Mann im Halbpelz und sammelte seine Flaschen wieder ein. Zum Glück waren sie unbeschädigt. Das flammende und glühende Juwel hatte er keines Blickes gewürdigt, obwohl sein Hirn rein mechanisch registrierte, daß es vor dem Hauseingang ungewöhnlich hell war.
SIE eilten in IHR Stockwerk hinauf — der Fahrstuhl war wegen des Feiertages außer Betrieb — und schlossen die Wohnungstür auf. ER legte den Stern vorsichtig auf die Waschmaschine, die im Korridor stand, und fing an, die vom Frost bleichen Wangen SEINER Frau zu reiben. SIE schüttelte bis zur Erschöpfung den Kopf, lachte und rannte ins Badezimmer, um dort heiß zu duschen, bevor die Gäste kamen.
Dann berieten SIE lange darüber, auf welchem Zweig das Juwel placiert werden sollte. SIE entschlossen sich, ihm unmittelbar an der Baumspitze einen Platz zu geben, und zwar so, daß man es noch mit der Hand berühren konnte. In ihrer winzigen, wenig geräumigen Wohnung konnte man mit der Hand bis zur Decke reichen; jedenfalls ER vermochte dies.
Rasch deckte SIE den Tisch; eine Viertelstunde vor zwölf kamen die Gäste: ein junger, talentierter Astronom mit seiner rundlichen, schmiegsamen Frau; der Nachbar, ein pensionierter Feuerwehrmann; ein Physik-Theoretiker mit seiner Frau, die gleichfalls Physik-Theoretiker war.
An die zehn Minuten standen sie alle in dem kleinen Flur herum, halfen sich gegenseitig aus den Mänteln, überreichten ihre Geschenke und Glückwunschkarten, umarmten sich und tauschten Küsse. Dann ließ sich der Feuerwehrmann vernehmen: „Es sind nur noch fünf Minuten Zeit…“ Er ächzte.
Alle wurden von Aufregung erfaßt, die Frauen waren besorgt um ihre noch nicht in Ordnung gebrachten Frisuren, doch die Zeit drängte, und sie beeilten sich, ihre Plätze am Tisch einzunehmen.
ER holte ein paar mit Rauhreif beschlagene Sektflaschen aus dem Kühlschrank. Der junge Astronom führte an ihnen so geschickt alle notwendigen Handgriffe aus, daß alle bereits ihr gefülltes Glas in der Hand hielten, als die Stimme des Ansagers im Radio den Beginn des neuen Jahres verkündete und die Glocken zu läuten begannen. Die Gläser begegneten sich in hohem Bogen in der Mitte des Tisches, mit einem langgezogenen, singenden Klang.
Nachdem sie auf das alte und das neue Jahr angestoßen, auf ihre Erfolge, auf den Gastgeber und seine Frau getrunken hatten, war eine Stunde vergangen, und sie wollten tanzen. SIE
trank wenig und betrachtete immerzu das sich langsam drehende, leuchtende Juwel, und ER lächelte still, wenn ER es sah.
„Ich wünsche mir den Walzer ›Verlöschende Lichter‹“, sagte die Frau des Astronomen mit tiefer Stimme. „Ich tanze gern im Finstern.“ Es stimmte jedoch nicht, daß sie gern im Finstern tanzte, sie mochte die Dunkelheit grundsätzlich nicht, weil sie glaubte, im Finstern müßte es unbedingt Ratten geben.
„Einen Walzer im Dunkeln!“ riefen die anderen.
Der alte Nachbar, der zu wissen schien, daß man von ihm keine Beteiligung am Tanz erwartete, noch dazu an einem Walzer und überdies im Dunkeln, schenkte sich ein halbes Gläschen Wodka ein, trank es und langte nach einem Stück farcierter Artischocke, wobei er sich den Lärm zunutze machte. Alle loben diese Artischocken so, alle essen sie. Also muß man es auch mal probieren. Er kostete und schüttelte den Kopf, als wollte er ausdrücken: „Ach, diese Jugend…“, dann biß er geräuschvoll in eine kleine Salzgurke.
Der Walzer „Verlöschende Lichter“ befand sich nicht in der Phonothek des Physik-Theoretikers, der das Tonbandgerät mitgebracht hatte. Walzer hatte er überhaupt nicht dabei.
Der Feuerwehrmann a. D. ächzte ein wenig, ging in seine Wohnung und brachte eine uralte Schallplatte mit dem Titel
„Amurwellen“. Die Musiktruhe wurde eingeschaltet und das Licht gelöscht.
„Ich tanze schrecklich gern im Dunkeln“, wiederholte die Frau des Astronomen, ohne im mindesten Anstalten zu machen, sich vom Stuhl zu erheben.
Mein Gott, dachte der ehemalige Feuerwehrmann erschrocken. Ins Hippodrom gehört die. Hier werden sie im Suff alles kurz und klein schlagen.
Im Zimmer war es immer noch so hell wie zuvor.
„Macht doch die Baumbeleuchtung aus“, schlug jemand vor.
Die Baumkerzen wurden ausgeschaltet. In der Wohnung blieb es hell.
„Es ist der lumineszierende Baumbehang“, konstatierte der Physik-Theoretiker den Tatbestand der Helligkeit. „Seine Intensität ist geradezu erstaunlich. Wo habt ihr das gekauft?“
„Es ist das Juwel aus der Nördlichen Krone“, sagte SIE.
„Ja“, bestätigte ER. „Es ist die Gemma.“
„Die anderen bekommen immer alles“, sagte die Physikerin unzufrieden zu ihrem Ehemann. „Und du hast keinen passenden Baumschmuck auftreiben können. Wann habt ihr das gekauft?“ Das war an die beiden gerichtet.
„Wir haben es uns für diese eine Nacht geholt“, entgegnete SIE. „So etwas Wundervolles kann man doch nicht kaufen…“
„Ja“, stimmte der Physiker zu. „Als ob man jetzt noch etwas Passendes bekommen könnte…“
„Aber nicht doch“, widersprach ER betrübt und entsetzt.
„Das ist doch nicht irgendein Gegenstand oder Artikel, es ist ein Stern! Ein Stern mit dem Namen Gemma aus der Nördlichen Krone. Dieses Sternbild wird manchmal auch als Nördlicher Kranz bezeichnet.“
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