„Eva“, rief er dem Mädchen zu.
Sie kam zu ihm und setzte sich neben ihn.
„Eva, alles, was Seona gesagt hat, ist völlig richtig. Sie hat wirklich zwanzig Jahre dort gelebt. Staunst du?“
„Ich hab’ noch nicht begriffen. Aber ich wollte dir ja immer schon sagen: Dieses Mädchen ist nicht Osa.“
Jetzt war es Erli, der sie verwundert ansah.
„Sie sieht Osa sehr ähnlich, erstaunlich ähnlich. Doch sie ist nicht Osa. Henry war nur über die Begegnung mit ihr zu sehr aufgeregt, denn es war doch wirklich ein Wunder, daß sie noch am Leben war. Später dachte er, Osa habe den Verstand verloren. Bald wird er selbst den Unterschied feststellen… Du sagst also, sie hat dort zwanzig Jahre lang gelebt? Als mir klar wurde, daß sie nicht Osa ist, habe ich mir gesagt: Vielleicht haben diese Fremdlinge irgendwie für ihre eigenen Zwecke und Ziele eine Osa geschaffen, die Frau eines der Männer, die noch am Leben sind. Etwas anderes ist mir nicht eingefallen. Wenn du aber nun sagst… Demnach ist sie Osas Tochter. Und alles, was sie sagt, ist die reine Wahrheit.“
„Ja, einiges hellt sich allmählich auf, doch es gibt noch viele unklare Stellen. Eva, gib dieses Material in den Computer und dazu das Programm über die Beschleunigung der Zeit auf verschiedenen Breitengraden des Eremiten. Ich glaube, dabei wird etwas Fürchterliches herauskommen. Ich werde gleich mal Henry fragen, an welchen Stellen sie den Energiegürtel durchflogen haben. Unter Umständen stellt sich heraus, daß es gar keine Energieschwellen und — barrieren sind.“
Erli verließ den Raum und öffnete, nachdem er an einigen Zimmern vorbeigegangen war, die Tür zum Laboratorium für Informationsaufzeichnung. Henry sollte sich hier die aufgezeichneten Gespräche mit der Zentrale anhören, die hier gemacht wurden, als sie einige Male durch die Energiebarriere hindurchgeflogen sind.
Henry saß da und hatte den Kopf auf die Montagetafel fallen lassen. Um ihn herum lagen die Aufnahmekristalle, das Tonkabel und eine leere Tonbandkassette.
„Henry“, Erli klopfte ihm auf die Schulter, „ich will dir nur sagen… Du mußt jetzt tapfer sein… Es ist nicht Osa, Henry.“
Wirt hob sein blasses, müdes Gesicht zu ihm empor und nickte ein paarmal. „Ich weiß es bereits, Erli. Sie ist meine Tochter Seona. In Osas Ring war ein Aufnahmekristall. Den Ring hat mir Seona übergeben. Osa hat mir darauf alles mitgeteilt. Es hat natürlich nur eine Minute gedauert.“
„Henry, hier hat jeder jemanden oder etwas verloren.“
Erli blieb noch einen Augenblick stehen, dann ging er schweigend hinaus, kam aber gleich darauf wieder zurück.
„Ich wollte dich fragen, Henry, bei welchen Breitengraden habt ihr die Energiebarrieren durchflogen?“
Henry nannte die Grade und fügte hinzu: „Doch das waren gar keine Energiebarrieren.“
„Dacht’ ich’s mir doch!“
„Das waren die Grenzen der Gebiete, in denen die Zeit unterschiedlich vergeht. Je größer die Entfernung vom Äquator ist, um so rascher vergeht sie. Hör dir das mal an!“
Er hielt die rotierende Kassette an, legte ein Band ein und schaltete das Gerät wieder ein. Im Zimmer erklang ein schrilles, hohes Geheul.
„Das ist die tiefste Frequenz von Niks Stimme. Und hör das an.“
Er änderte die Geschwindigkeit. Aus dem Lautsprecher tönte es: „Ich rufe Wirt. Hier Traikow. Ich rufe Wirt!“ Die Worte wurden viele Male wiederholt. „Was ist bei euch vor sich gegangen?“
„Hinter der ersten Stufe vergeht die Zeit zwanzigmal schneller als bei uns. Um wieviel schneller sie hinter der zweiten ist, weiß ich nicht. In der zweiten Basis vergeht sie jedenfalls fünfhundertmal schneller.“
„Deshalb wurdet ihr auf jeder Stufe gepreßt und gedrückt.
Die Zeit vergeht schneller, und man braucht einen sehr starken Energieimpuls, um in diesen Zeitstrom einzutreten. Darum hat sich auch ›Veilchen‹ ohne allen ersichtlichen Grund plötzlich gedreht. Sein Energieimpuls war viel zu niedrig“, überlegte Erli.
„Was werden wir jetzt machen?“ fragte Wirt.
„Ich werde die Unterlagen Eva geben, damit sie alles in den Computer einführen kann. Sobald wir das Ergebnis haben, werden wir Sven und Nik davon unterrichten. Und was wirst du Seona sagen?“
„Ich werde sie das hier anhören lassen“, entgegnete Henry und öffnete seine Hand, in der er den Ring mit dem Stein hatte.
In die andere Hand nahm er den kleinen Aufzeichnungsapparat und die Berechnungen von den Kristallen, dann gingen beide auf den Korridor.
Erli gab Eva die zur Lösung der Aufgabe notwendigen Unterlagen. Henry setzte sich neben Seona. Sie lächelte ihn an. Es war zu spüren, daß sie sich nicht so recht wohl fühlte. Schließlich geht es jedem Menschen so, der sich plötzlich inmitten guter, aber immerhin doch unbekannter Menschen sieht!
„Seona“, sagte Henry, „ich werde dir nichts erklären. Ich heiße Henry Wirt. Hör dir das hier an.“ Er befestigte den Ring in der Haltevorrichtung und schaltete den Apparat ein. Eine traurige, leise Stimme erklang; „Guten Tag, Henry, mein Geliebter.“
Erli nahm Evas Hand, und beide verließen den Raum.
„Ich wollte das Alter der sterblichen Überreste von Esra und Jumm ermitteln“, sagte Erli. „Das muß unbedingt geschehen.“
„Ich werde dir dabei helfen.“
„Nein, das mache ich allein. Es ist nicht sehr kompliziert. Ich weiß nur nicht, wo sich das Laboratorium befindet.“
„Du mußt diesen Korridor zum nördlichen Flügel entlanggehen. Dort ist ein Hinweisschild.“
„Eva, bald werden die Berechnungen fertig sein. Geh hin und paß gut auf.“
„Mir ist jetzt nicht danach zumute, dorthin zu gehen. Ich werde dich begleiten.“
„Du bist ja wirklich gut! Wohin sollte man hier schon jemanden begleiten! Es ist ja alles nahebei!“
„Trotzdem — macht nichts.“
Sie waren kaum ein paar Schritte gelaufen, als sich eine Tür öffnete, in der Henrys Kopf erschien.
„Wohin seid ihr denn gegangen?“ rief er ihnen hinterher.
„Eva, geh du zu ihm. Ich komme schnell zurück.“
Erli schleppte sich den Korridor entlang und blieb zuweilen vor Müdigkeit erschöpft stehen. Dort, wo der Korridor die Linie des Äquators schnitt, konnte er seiner Wißbegier keinen Einhalt mehr gebieten, und er warf einen Blick in den Ingenieurbereich. Er wußte, was er sehen würde, und er hatte sich nicht geirrt. Dieser Saal war ebenfalls etliche hundert Jahre alt.
Überall lag hundertjähriger Staub. Ungefähr zweihundert Meter weiter fand er auf dem Korridor das Laboratorium, das er suchte, und nahm sich dort einen kleinen Apparat. Dann fuhr er mit der Rolltreppe in das oberste Stockwerk der Zentrale, blieb ein paar Sekunden neben der durchsichtigen Kuppel stehen und versuchte, die Gestalten von Sven und Nik auf dem vierten Speicher zu erkennen, aber er konnte nichts sehen.
Im Hauptpult begegnete er ständig Esra und Jumm, die immerzu über etwas zu streiten schienen. Er beachtete sie jedoch überhaupt nicht mehr. Sie lebten wohl in einem völlig anderen Zeitmaß.
Die Analyse der Überreste der beiden Menschen ergab, daß sie vor anderthalbtausend Jahren gestorben waren. Fünf Minuten später war Erli im Verbindungsraum. Henry war nicht mehr dort. Wahrscheinlich hatte Sven ihn zu sich gerufen. Die Unbekannten schienen irgend etwas im Schilde zu führen.
Henry war mit dem zweiten Mehrzweckmobil zu dem vierten Speicher gefahren.
Eva hatte ihn, seltsam verstört, getroffen.
„Erli! In der zwanzigsten Basis sind ungefähr sechshundert Jahre vergangen. Sie leben schon längst nicht mehr!“
Sven und Nik sprangen in den Fahrstuhl und fuhren nach unten. Nikolai sagte im Vorbeigehen: „Erli! Ihr Mehrzweckmobil ist aufgetaucht. Sie kommen vom Speicher herunter. Es ist anzunehmen, daß sie gleich zur Zentrale fahren. Wir begeben uns gleichfalls nach unten zu den Mehrzweckmobilen.“
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