„Und wenn ich… Möchtest du das denn? Lej hat immer von dir gesprochen. Doch sie liebte dich nicht. Nein. Wir sind Freundinnen gewesen. Sie hat mir alles erzählt. Alles. Es war genug, damit ich anfing, an dich zu denken. Ich wußte, daß du hierherkommen würdest, und habe auf dich gewartet. Vielleicht hat es Lej absichtlich so gemacht, damit dich jemand lieben wird. Sie ist sehr gütig gewesen. Selbst brauchte sie überhaupt nichts.“
„Ich habe stets das getan, was sie wollte. Und nie hat sie etwas für sich selbst gewollt“, sagte Erli. „Ich würde dich hier wegbringen, wenn es möglich wäre.“
Sie kam auf ihn zugerannt, schlang ihre Arme um seine Schultern, schaute ihn von unten herauf an und sagte: „Ist das wirklich wahr, Erli?“
Erli schob sie sacht zurück und sagte: „In der Zentrale sind irgendwelche fremden Menschen. Vor wenigen Minuten hat mir Nik das mitgeteilt. Im Moment beobachtet er sie.“
„Du hast mir das mit Esra und Jumm nicht geglaubt, nicht wahr?“
Er nickte.
„Ich habe eben nach ihnen geschossen. Aber sie sind weggegangen. Sie sind wie Schatten.“
„Schon gut, Eva… Wir werden auch noch feststellen, was das gewesen ist. Setz dich jetzt hin und mach dich bereit zum Empfang. Gleich wird die Verbindung mit Wirt kommen. Ich werde mit Nik sprechen.“
Erli nahm die Verbindung mit Traikow auf, der sich sofort meldete, als hätte er schon darauf gewartet. „Erli! Wo bist du jetzt?“
„Am Verbindungspult. Wo sind diese Leute?“
„Ein paar sind auf dem Dach des fünften Speichers. Was sie dort tun, ist mir nicht klar. Die anderen sind zum sechsten hingefahren.“
„Gefahren? Womit?“
„Sie haben so etwas wie ein Mehrzweckmobil.“
„Ich weiß nicht, wie wir es richtig machen, Nik. Bleibst du dort, oder kommst du hierher zurück? Wenn man nur wüßte, was sie vorhaben, vor allem, wer sie eigentlich sind.“
„Ich werde vorläufig hierbleiben. Wenn irgendwas ist, gebe ich dir Bescheid… Eins kann ich mit Bestimmtheit sagen: Es sind keine von uns, denn unsere kenne ich alle.“
„Na schön. Sei vorsichtig, Nik.“
Erli schaltete das Funkgerät aus und sagte müde: „Mir brummt der Schädel. Ich sehe da noch nicht durch, was alles geschehen ist, falls das überhaupt möglich ist.“
„Ich verstehe, Erli“, sagte Eva.
Jetzt wurden sie von Wirt verlangt.
„Die Basis ist vernichtet“, gab Henry ruhig durch. „Praktisch vollkommen vernichtet. Alles ist zerstört.“
„Und die Menschen?“
„Bis auf eine… Osa“, sagte Henry flüsternd.
„Weshalb sprichst du denn so leise?“
„Sie sitzt neben mir. Erli, ich kann darüber nicht laut sprechen.“
„Was ist mit den anderen?“
„Wahrscheinlich leben sie nicht mehr. Jedenfalls Jürgens ist tot. Wir haben ihn gesehen.“
„Henry, kommt so schnell wie möglich zurück! Wenn ihr an die Zentrale herankommt, fliegt sie von Süden an und landet über den Bäumen, direkt am Hauptaufgang.“
„Verstanden“, antwortete Sven.
„Es ist nämlich so, daß in der Zentrale irgendwelche Menschen erschienen sind. Wer sie sind, weiß ich nicht. Nik beobachtet sie. Es ist besser, wenn sie euch nicht sehen. Habt ihr verstanden?“
„Das sind denn doch zu viele Rätsel für einen einzigen Tag“, sagte Sven.
„Der Tag ist ja noch nicht zu Ende.“
„Also gut, in zwanzig Minuten sind wir bei euch“, gab Henry durch. „Ich gehe aus der Leitung.“
Erli reichte das Mikrofon an Eva weiter.
„Ist ja schön, sie haben Osa gefunden. Mit ihr ist auch irgendwas geschehen. Henry wollte nicht einmal laut sprechen in ihrer Gegenwart. Drei sind bereits nicht mehr am Leben.“
Eva erhob sich langsam vom Sessel und blickte in Erlis Richtung. Er schaute sie verwundert an. Was war geschehen? Das Mädchen hob die rechte Hand und preßte sie auf den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Erli ging auf Eva zu, dabei spürte er, wie ihm ein unangenehmer Kälteschauer über den Rücken lief. Er drehte sich langsam um und hatte das Gefühl, daß sich ihm die Haare sträubten und seine Glieder durch den fürchterlichen Schreck wie gelähmt waren.
Die Tür im Raum war geschlossen, doch in ihr war die Gestalt Philipp Esras aufgetaucht. Er stand nachdenklich auf der Türschwelle. Dann lief er schnurstracks ins Zimmer auf die Funkanlage zu. Erli drängte Eva hinter einen Wandvorsprung, doch sie klammerte sich mit ihren weiß gewordenen Fingern fest an seine Schultern. Am liebsten hätte er sich selbst an jemandem festgehalten, um sich von dem lähmenden Schreck zu erholen.
Esra führte verschiedene Schaltungen an der Tastatur des Gerätes durch, wobei sich kein Hebel und kein Pedal von der Stelle rührte. Doch Esra handhabte sie so, als führte er tatsächlich die Schaltungen aus. Dann streckte er seine Hand nach dem Mikrofon aus, führte es an den Mund und hielt dabei seine Finger so, als befände sich in seiner Hand wirklich ein Mikrofon. Aber das stand nach wie vor auf dem kleinen Tisch.
Nachdem Esra ein paar Worte in das imaginäre Mikrofon gesprochen hatte, erhielt er offensichtlich keine Antwort, so daß er es auf das Tischchen warf. Einige Sekunden stand er da, hatte die Ellbogen auf die Sesselrücken gestützt und trommelte mit den Fingern auf dem Schaltbrett. Seine Handlungen waren von keinem Geräusch oder Laut begleitet. Dann strich er über seinen Rotkopf und ging einige Male im Zimmer auf und ab, wobei er in die geöffneten Fenster blickte.
Erli hielt den Atem an. Natürlich, das war wirklich Philipp Esra. Rotes Haar. Großer Kopf. Ungebügelte Hosen, wie immer. Im weiten, legeren Blouson mit großem Halsausschnitt.
Grüne Schuhe, die er nicht einmal am Strand auszog. Esra schien auf jemanden zu warten. Aber auf wen wohl? Wie konnte er überhaupt hier auftauchen, wo Eva und Erli doch bereits seine sterblichen Überreste in Augenschein genommen hatten!
Durch die Tür schien ihn jemand gerufen zu haben. Lautlos rief er etwas zurück und ging dann rasch durch die geschlossene Tür.
„Erli“, flüsterte Eva. „Das ist zuviel! Halluzinationen habe ich noch nie gehabt!“
„Es ist aber keine Halluzination. Das war er tatsächlich. Zunächst habe ich auch gedacht, ich sei am Ende… ich bin wahnsinnig. Doch jetzt denke ich, es hat sich alles in Wirklichkeit zugetragen. Ich werde ihm hinterhergehen.“
„Erli, und ich?“
„Eva, du wirst hier sitzen bleiben. Jede Minute müssen Sven und Henry ankommen. Sie sollen am besten gleich hierherkommen. Vorläufig erzählst du ihnen und Nik nichts davon.
Ich werde sehr schnell zurück sein.“
Er öffnete die Tür und schaute auf den Korridor hinaus. Esras Gestalt tauchte im linken Teil auf, der zum Ausgang führte.
Erli gab sich Mühe, keine Geräusche zu verursachen, lief schnell in die gleiche Richtung und passierte einige Korridore und unterirdische Übergänge. Dabei wurde er beständig von der Kette aufleuchtender Lämpchen begleitet, während Esra im Dunkeln lief und sich ausgezeichnet zurechtfand.
Sie gingen so bis zur Rolltreppe, die zum Hauptsteuerungspult führte und ließen sich nach oben tragen. Die Tür war noch genauso geöffnet, wie sie Erli verlassen hatte, doch Esra machte eine Bewegung, als öffnete er sie. Sie traten beide nacheinander ein. Erli hatte erwartet, Jumm hier anzutreffen, und das war richtig gewesen. Esra und Jumm nahmen auf dem Computer einige Rechenoperationen vor, wobei sie die Tastatur drückten und sich gegenseitig unterbrachen. Aber die Tastatur bewegte sich nicht. Das sah Erli ganz deutlich.
Dann falteten sie die Rolle auseinander. Es war irgendeine technische Zeichnung darauf.
Erli biß sich auf die Lippen, nahm allen Mut zusammen und faßte Philipp Esra am Ellbogen an. Seine Hand griff ins Leere, es war keinerlei Widerstand da.
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