Vielleicht wollte er noch einmal hinunter…
„Sie haben sich verteidigt“, sagte Henry. In seiner Stimme schwangen weder Kummer noch Trauer mit. „Sie haben sogar die richtige Position für ihre Blaster und Flammenwerfer gewählt.“
„Ja. Sie konnten sich nicht einfach so ergeben.“
„Sven, jemand von ihnen muß am Leben geblieben sein. Sie haben sich aus Wytscheks Zimmer zur Treppe durchgeschlagen. Ich habe die Einschüsse der Blaster gesehen. Einer oder zwei haben den Eingang verteidigt, die anderen konnten entkommen. Wohin könnten sie von dieser Kuppel aus gelangt sein?“
Sven hatte jetzt auch etwas Hoffnung. Vielleicht hatte Wirt sogar recht.
„Wir müssen uns die Basis mal von oben aus ansehen“, sagte er.
Der Hubschrauber flog langsam zwischen den beschädigten Kuppeln hin und her.
„Verstehst du, Sven, in einem Zimmer ist überhaupt gar nichts mehr. Absolut leer. Keine Couch, keine Sessel, keine kleinen Tische, keinerlei Gegenstände mehr. Aber es gibt dort nicht einen einzigen Splitter, kein einziges Bruchstück mehr.
In den anderen Zimmern dagegen herrscht ein wüstes Durcheinander, das Unterste ist nach oben gekehrt. In Osas Zimmer ist nicht einmal ihre Kleidung. Wohin hat das alles verschwinden können? Im Erdgeschoß müssen die Wasser- und Lebensmittelvorräte sein, auch der Speiseraum. Schade, daß ich nicht mehr nachsehen konnte, was dort los ist.“
Sie flogen das Territorium der zweiten Basis sorgfältig und langsam ab. Die errichteten Absperrungen waren aus den Fundamenten herausgerissen. Eine lag in fünfzig Meter Entfernung zerstückelt herum; die andere war überhaupt nicht mehr auffindbar. Aus diesem Grunde hatte auch die Selva in die Basis eindringen können. Die Kuppeln des Wohnkomplexes, der Verbindungsstation, der Laborgebäude und des Aeroplatzes hoben sich als Inseln im schmutziggrünen Pflanzengewirr des Eremiten ab, das umherkroch und — glitt. Der Planet ergriff wieder Besitz von dem, was man ihm abgerungen hatte.
Zwei zerstörte Hubschrauber lagen unweit des Aeroplatzes herum. Sven ging dicht an die Gleiter und Säcke heran, die ein klein wenig zur Seite wichen. In diesen wenigen Tagen war alles so zugewachsen, als wäre es vorher niemals anders gewesen. Durch die vordere, durchsichtige Glocke des einen Hubschraubers starrten sie die Augenhöhlen eines menschlichen Schädels an.
Wütend nahm Wirt Svens Flammenwerfer und übersprühte die im Nu verbrennenden Ableger der Kriechpflanzen. Doch sofort krochen von allen Seiten andere heran, sie schienen überhaupt kein Ende zu nehmen.
„Das hat keinen Zweck, Henry“, sagte Sven und legte eine Hand auf seine Schulter, mit der anderen nahm er ihm vorsichtig und sanft den Flammenwerfer weg. „Sie begreifen sowieso nichts. Wer kann das sein?“
„Außer Osa konnten sie alle einen Hubschrauber fliegen…“
„Einen von ihnen werden wir demnach nicht mehr finden können…“
„Das ist Jürgens. Er war der Pilot.“
Der andere Hubschrauber war leer.
Das Laborgebäude war in einem derartigen Zustand, daß es keinen Sinn hatte, es näher in Augenschein zu nehmen.
„Schau mal!“ schrie Sven plötzlich. „Auf der Kuppel der Verbindungsstation scheint so etwas wie ein Stoffetzen zu sein. Jemand hat dort Spalten und Löcher zugestopft!“
„Ich hab’ es doch gesagt! Ich wußte es!“
Der Hubschrauber flog um die kleine Kuppel herum.
„Wo wird hier der Eingang sein?“
„Hier ist alles mit Plast überzogen. Dort, wo der Eingang war, ist alles mit Plast verschlossen. Von außen. Jemand hat den Eingang von außen zugegossen und ist selbst draußen geblieben.“
Was könnte in dieser von der Außenwelt abgeschlossenen Kuppel sein? Dokumente? Menschen? Wer war draußen geblieben? Weshalb?
„Sven, sie müssen hier noch zwei Mehrzweckmobile gehabt haben. Diese hier vollkommen nutzlosen Maschinen müßten neben den Hubschraubern stehen.“
„Aber sie sind nicht dort.“
„Demnach hat sich jemand entschlossen, sich mit den Mehrzweckmobilen zu einer Basis durchzuschlagen. Es ist für den Betreffenden der sichere Tod gewesen.“
Der Hubschrauber flog noch etliche Male um die versiegelte Kuppel herum.
Plötzlich fiel Sven das Steuer aus den Händen.
„Osa!“ schrie Henry.
Gesicht und Hände von innen an die Wand der Kuppel gepreßt, hatte eine Frau den Blick auf sie gerichtet.
„Osa!“
Die Kette der Energiespeicher dehnte sich von der Zentralstation nach Norden und Süden etwa zwei Kilometer lang. Es waren riesige weiße Zylinder mit vielen Anbauten, Masten, unterbrechenden Flächen, Treppen und Aufzügen. Normalerweise wurden sie von mehreren Ingenieuren beaufsichtigt, die darauf achteten, daß die Energiemenge in jedem Behälter eine bestimmte Norm nicht überstieg. Von ihnen wurde das Sperrnetz gespeist, das auf dem gesamten Terrain der Zentrale Kraftfelder bildete. Doch um diese Absperrungen zu versorgen, war nicht diese gewaltige Anzahl von Speichern erforderlich. Für die Arbeit des Sperrnetzes reichte der trillionste Teil der Energiemenge in den Speichern aus.
Nikolai fuhr mit dem Mehrzweckmobil an einen dieser Speicher heran, sprang heraus und in den Lift, der ihn in wenigen Sekunden in den Ingenieurbereich brachte. Der kleine, helle Saal mit einer Menge Apparaturen machte auf ihn einen beängstigenden Eindruck. Wie sollte er sich hier zurechtfinden?
Ihm wurde jedoch schnell klar, daß er sich nicht unbedingt in allem auszukennen brauchte. Das Kontrollsystem für die Steuerung der Speicher war ziemlich einfach. Er notierte sich, was der Hauptzähler anzeigte, und zog den Streifen aus dem Autographen, der den Verbrauch für die einzelnen Tage, Stunden und Minuten registrierte. Dann fuhr er wieder hinunter. Er steckte den Streifen in die Tasche am Sessel und begab sich zum nächsten Speicher. Dort machte er dasselbe noch einmal.
Danach sah er sich noch den dritten und vierten Speicher an…
Der Aufzug im fünften Zylinder befand sich oben. Nikolai drückte einige Male auf den Knopf, damit der Lift herunter käme. Erfolglos. Er nahm an, der Fahrstuhl sei nicht in Betrieb.
Aber plötzlich leuchteten die Lämpchen an der Steuerungstafel auf. Der Lift kam aus dem zehnten Stock herunter. Im fünften Stock blieb er stehen. Dort war der Ingenieurbereich. Nikolai bemühte sich, den Fahrstuhl wieder nach unten zu rufen, doch er war besetzt. Plötzlich fuhr der Aufzug erneut nach oben.
Nikolai pochte mit der Faust an die Schalttafel, aber es änderte sich nichts. Er lief zur Seite und sah durch den vergitterten Schacht, daß der Lift in der Tat in Bewegung war. Er kletterte vorsichtig in die Luke des Mehrzweckmobils, gab sich Mühe, keinen Lärm zu verursachen, und fuhr äußerst langsam zum vierten Speicher. Dort sprang er in den Aufzug und ließ sich in das letzte, zwölfte Stockwerk hinaufbringen. Das war das flache Dach des Zylinders. Im Schutz der Masten ging er bis an den Rand des Daches und wäre um Haaresbreite aus einer Höhe von siebzig Metern hinuntergestürzt. Der benachbarte Zylinder befand sich ungefähr hundertfünfzig Meter von ihm entfernt. Auf seinem flachen Dach liefen ein paar Gestalten umher. Der Liftschacht des fünften Speichers war auf der Seite von Traikow, so daß er sehen konnte, daß der Fahrstuhl im zwölften Stock stand. Falls sie seit wenigstens zwei Minuten auf dem Dach waren, mußten sie sein Mehrzweckmobil bemerkt haben. Außerdem hatte er mehrmals versucht, den Aufzug nach unten zu rufen.
Die halbbekleideten menschlichen Gestalten erschienen in dieser Entfernung klein. Doch als er sich selbst mit Teilen der Masten verglich, kam er zu dem Schluß, daß die Unbekannten fast so groß waren wie er. Sie hatten braungebrannte Körper, waren mit Shorts bekleidet, an den Füßen hatten sie eine Art Sandalen, und trugen weder Hemden noch Kopfbedeckungen.
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