„Ich habe verstanden, Erli. Ich gehe.“
„Wart mal! Der Äquator dieses Planeten läuft doch durch die Zentrale?“
„Ja.“
„Hat jemand schon mal daran gedacht, die imaginäre Äquatorlinie zu markieren? Kann ich sie auf dem Gelände der Zentrale nicht irgendwie finden?“
„Die Linie des Äquators ist durch kleine Pflöcke markiert.
Das hat Stap gemacht; er hatte etwas übrig für derartige Sachen.“
Sie gingen gemeinsam hinaus zum Aufgang der Zentrale.
Traikow wandte sich der Unterkunft Evas zu, Erli kletterte auf das Dach eines Mehrzweckmobils, öffnete die Luke und stieg hinein. Er prüfte die Steuerung der Maschine. Es war alles in Ordnung.
Die Maschine heulte wütend auf und raste in großem Bogen um das Gebäude der Zentrale. Nach ein paar hundert Meter Flug brachte Erli das Mehrzweckmobil zum Stehen und sprang auf den Rasen. Er lief noch ein Stück zu Fuß, betrachtete aufmerksam das Gras und orientierte sich nach der Gebäudekuppel.
Schließlich fand er, was er suchte: Im Abstand von einigen Metern waren jeweils fünfzig Zentimeter hohe Holzklötze in die Erde gerammt. Früher waren sie einmal mit hellroter Farbe gestrichen, damit sie sich vom Gras gut abhoben. Doch von der Farbe war keine Spur mehr zu sehen. Bei der geringsten Berührung fielen die Klötzchen um. Erli hob ein paar dieser ehemaligen Holzklötze auf und verstaute sie behutsam im Gepäckraum der Maschine. Er kletterte wieder in sein Fahrzeug, schob die Vorderwand in die Höhe, damit er gute Sicht hatte, und ließ das Mehrzweckmobil auf dieser festgelegten Linie mit mäßiger Geschwindigkeit entlanggleiten. Sehr bald traf er auf riesengroße, umgefallene, halb verfaulte Bäume.
Auf dem Terrain der Zentrale konnte es so große Bäume überhaupt nicht geben. Sie hätten gar nicht so rasch heranwachsen können, weil sie sich ja aus Samen von der Erde entwickeln mußten.
Er fuhr etwa einen Kilometer auf der Strecke entlang und fand danach endgültig seine Annahme bestätigt, daß die Mannschaft von „Veilchen“ im Gebiet um die Äquatorlinie nicht etwa ein paar Tage nur abwesend gewesen war, sondern mindestens einige Jahrzehnte. Er würde den Zeitraum genauer bestimmen können, sobald er nach seiner Rückkehr zur Zentrale die erforderlichen Analysen im Labor vorgenommen haben würde.
Er hätte sich auch sofort entschlossen zurückzukehren doch der schwarze Selva-Streifen am Horizont nahm seine Aufmerksamkeit voll in Anspruch. Er schien ihm außerordentlich hoch zu sein.
Mit hoher Geschwindigkeit fuhr er nun vorwärts, drückte das Gras und kleine Büsche nieder, ließ beim Durchqueren kleiner, künstlich angelegter Flüsse und Seen Fontänen um die Maschine aufspritzen, flog Böschungen hinauf und ließ sich in blühende Talsenken gleiten. Allmählich veränderte sich der Pflanzenwuchs. Er wurde immer wildnisartiger. Aber das verwunderte ihn gar nicht so sehr, weil nur der mittlere Teil des Parkes kultiviert war, alles andere hatte man der Natur überlassen. Natürlich hatte man den Pflanzengleitern den Zutritt verwehrt. Hier gab es lediglich Pflanzen von der Erde, kultivierte oder verwilderte.
Als ihn von der Verbotslinie nur noch hundert Meter trennten, wurde ihm klar, weshalb ihm der Selva-Streifen am Horizont so unnatürlich hoch vorgekommen war. Die einzelnen Pflanzen waren nicht höher als fünf Meter, doch sie waren aneinander hochgeklettert. Es war ein unheimlich drohendes, mehrstöckiges Pflanzengeflecht, so daß man einzelne Pflanzen darin überhaupt nicht unterscheiden konnte. Es war ein scheußliches Gewirr von Wurzeln, Stämmen und Zweigen.
Erli kletterte aus dem Mehrzweckmobil und ging dicht an die Verbotslinie heran. Jetzt erst sah er, daß es sich um abgestorbene Pflanzen handelte, die von der Nordseite des Parkes in riesigem Halbkreis auf der Verbotslinie aufgetürmt waren. Der Wall war mindestens hundert Meter hoch. Welche Kraft hatte einen solchen toten Gürtel anlegen können? Eigentlich nur ein fürchterlicher, noch nie dagewesener Orkan, dessen Gewalt man sich schwer vorstellen konnte. Der Orkan war offensichtlich von Norden her gekommen und hatte, als er auf die undurchdringliche Verbotswand gestoßen war, seine Trophäen an dieser Stelle liegengelassen.
Wie hatte sich aber ein derartiger Orkan entwickeln können?
Auf dem Eremiten herrschte solch ein mildes Klima, ohne stürmische Winde.
Hier stieß er auf die Frage, was mit dem Kraftfeld dort geschehen war, wo es von der Äquatorlinie durchkreuzt wurde.
Wieder setzte er sich in die Maschine und fuhr an dem Wall entlang, dessen Höhe sichtlich abnahm, je mehr sich das Fahrzeug dem Schnittpunkt näherte. Als er sah, daß dort alles in Ordnung war, sagte er sich, daß wahrscheinlich an dieser Stelle die errichtete Sperrmauer aus den Speichern riesige Energiemengen geholt hatte, um die Bresche zu schließen, und sie war intakt geblieben.
So verhielt es sich hier in der Zentrale, deren Energiespeicher praktisch unerschöpflich waren. Was aber war von den Basen übriggeblieben, falls über sie ein solcher Orkan hinweggebraust war? Vielleicht zehn Minuten lang saß er im Gras im Schatten des Mehrzweckmobils und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Was hatte er in diesen drei Stunden in Erfahrung gebracht?
Absolut sicher war folgendes: Esra und Jumm lebten nicht mehr, sie waren tot. Alles entlang der Äquatorlinie warum etliche Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte gealtert. Es war jedoch möglich, daß dies ganz einfach nur der Arbeit irgendwelcher Mikroorganismen zuzuschreiben war. Einige hundert Kilometer nördlich von der Zentrale gab es ein unbekanntes Kraftfeld, einen Energieschirm, der jede materielle Substanz von sich abstößt und Radiowellen nicht weiterleitet. In dem Zeitraum, in dem „Veilchen“ nicht auf dem Eremiten war, hat es einen ungeheuerlichen Orkan gegeben. Die Menschen auf den Basen haben auf Rufe der Zentrale keine Antwort gefunkt…
Wie sollte man das einordnen und zusammenfassen? „Erli!“
hörte er Traikows Stimme. „Verstehst du mich?“
„Ja, ich höre dich, Nik. Was gibt’s bei dir?“
„Es handelt sich um folgendes.“ Traikows Stimme war vollkommen ruhig. „Was soll ich mit Menschen anfangen, die sich in der Nähe der Energiespeicher aufhalten?“
„Was für Menschen denn, Nik? Was erzählst du da?“ Erli sprang auf und war mit einem Ruck oben auf dem Mehrzweckmobil.
„Ich dachte, wir hätten stillschweigend vereinbart, daß keiner den anderen für verrückt erklärt, was auch immer geschehen möge. Erli, hier sind ein paar Mann. Vorläufig sehen sie mich noch nicht, oder sie tun so, als sähen sie nichts. Ich kenne sie nicht. In der Zentrale bei uns sind sie nie gewesen.“
„Ich werde sofort bei dir sein, Nik.“
„Ausgezeichnet. Ich befinde mich auf dem vierten nördlichen Speicher. Das Mehrzweckmobil steht unten. Ich bin ganz oben.“
Erli warf sich auf den Pilotensitz. Der Motor heulte auf, die Maschine flog auf die in der Ferne blinkende Kuppel der Zentralstation zu. Erli wollte nicht, daß ihn die Unbekannten erblickten, bevor er es ihnen gestattete. Was waren das für Menschen? Auf dem Eremiten gab es zweihundertvierzehn Menschen. Vier davon waren noch am Leben. Zwei waren tot. Von allen anderen war vorläufig überhaupt nichts bekannt.
Wenn diese Menschen aus der Expedition von der Erde gewesen wären, hätte Nik sie unbedingt erkannt. Hier kannten alle einander von Ansehen.
Möglicherweise waren es also Vertreter jener Zivilisation, die alle Basen und die Zentrale geschaffen hatte? Falls es sich so verhielt, dann waren sie im Vergleich zu den übriggebliebenen fünf Erdenbürgern allmächtig. Sie konnten demnach alles mit ihnen machen, was sie wollten. Sie waren in ihre Besitzungen zurückgekehrt. Was würden sie jetzt unternehmen? Was sollte man ihnen sagen? Wie konnte man ihnen die Handlungen der Erdmenschen erklären?
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