Im Laufschritt kehrte er wieder zum Hauptpult zurück, holte Luft vor der Tür und ging hinein. Die Lampen stellte er auf den Boden. Eine davon knipste er an, hob sie über den Kopf und ging langsam weiter.
Er sah einen runden Saal mit einem Durchmesser von etwa vierzig Metern vor sich. An den Wänden standen Schränke mit elektronischen Anlagen, bestimmt für Hilfeleistungen, Rechenmaschinen, Informationsspeicher, Autographen. Daneben waren achtzehn Sessel für Mitarbeiter. Sie waren alle besetzt, wenn Konrad Stajkowski die Bearbeitung der aufgespeicherten Informationen als dringliche kollektive Arbeit angesetzt hatte.
In der Mitte des Saales befand sich das zehn Meter große Pult in Hufeisenform: verschiedenfarbige Tafeln mit Tastaturen zur Einstellung eines Programms, Apparate für die Rückverbindung mit den zwanzig Basen, die es auf dem Eremiten gab, das Pult des Hauptcomputers, beleuchtete Melde- und Signaltafeln, Apparate für den visuellen Kontakt.
Unmittelbar in der Mitte des Saales standen noch ein paar Sessel. Hier hatten Konrad Stakowski, Philipp Esra und Edwin Jumm sowie einige andere Mitglieder der Expedition gearbeitet.
Erli stellte die Taschenlampe auf das Pult, lief um es herum, ohne etwas zu berühren, und betrat dann das Innere. Die ersten beiden Sessel waren leer. Im dritten und vierten lagen zwei menschliche Skelette, an denen stellenweise noch etwas Haut und ein paar Fetzen der Kleidung hingen.
Einige Sekunden betrachtete sie Erli, dann atmete er stoßweise die warme, muffige Luft ein und preßte die Hände an die Schläfen. Zum dritten Male überfiel ihn eine Welle von Angst, er wich zurück zum Ausgang und hielt den Schrei, der in ihm hochstieg, zurück. Er lehnte sich an den Türpfosten und zitterte infolge des völlig Unerwarteten. Das helle Licht im Korridor ließ ihn wieder etwas zu sich kommen. Und wie muß erst Eva zumute gewesen sein? dachte er. Eine Frau, ganz allein. Und sie konnte uns sogar noch was erzählen. Sie hat die Kraft gehabt, sich davon zu überzeugen, daß auf den speichernden Anlagen alle Informationen gelöscht sind. Ich habe nicht einmal das beim ersten Mal tun können.
„Erli, was ist bei dir los?“ rief ihn Traikow.
„Wir müssen nur noch herausfinden, was mit den anderen zweihundertacht Mann passiert ist…“
„Demnach hat Eva die Wahrheit gesagt?“
„Und was für eine Wahrheit!“
„Mich verlangt Henry. Ich schalte mich aus.“
„Wir müssen nur noch herausfinden, was mit den anderen zweihundertacht Mann passiert ist“, flüsterte Erli vor sich hin und ging wieder in den Saal.
An ihrem Standort befanden sich ungefähr zwölf Hubschrauber. Sven wollte auf einen kleinen Zweisitzer losstürzen, doch Henry hielt ihn zurück. „Wenn sie nun noch am Leben sind, und man müßte sie schnellstens hierherbringen?“
Thomson widersprach nicht. Sie rannten zu einem großen Zehnsitzer, legten ihre Blaster hinein und kletterten dann selbst hinauf. Sven warf einen Blick in den Gepäckraum, um sich davon zu überzeugen, daß Flammenwerfer an Bord waren.
Ohne sie in die Selva zu fliegen, wäre heller Wahnsinn gewesen.
Sven ließ den Hubschrauber jäh in die Höhe steigen. Die Kuppel der Zentralstation huschte vorbei, die Energiespeicher erschienen als weiße Tasten, die hölzernen Unterkunftshäuschen waren wie dunkle Erbsen im Gelände verstreut, nach einer Minute waren die letzten Flecken der hellgrünen Parkanlagen verschwunden. Unter ihnen lag die endlose Selva.
„Henry“, sagte Sven, „geh auf Verbindung mit der Zentrale.
Wir müssen alles überprüfen.“
„In Ordnung… Nik! Hörst du mich gut?“ fragte Henry, als er die Funkanlage eingeschaltet hatte. „Antworte!“
„Ausgezeichnet“, antwortete Traikows Stimme. „Wie geht es bei euch? Alles in Ordnung?“
„Völlig normal“, sagte Henry, und zu Thomson gewandt:
„Die Verbindung klappt, Sven… Nik! Ich werde die Zentrale alle zwanzig Minuten rufen, wie wir es vereinbart haben.“
„Gut.“
Von oben wirkte die Selva eintönig. Düstere Zusammenballungen dunkelgrünen Pflanzenwuchses. Ab und zu konnte das Auge kärgliche Wasserlachen von Flüssen und Seen erhaschen. Das Gelände war felsig. Auf dem Eremiten gab es überhaupt keine hohen Berge.
„Wohin man auch schaut, überall ist diese Selva!“ Wirt zog die Schultern hoch. „Falls nun die Selva in eine von den Basen eindringt? Allein der Gedanke ist schrecklich. Ein wildes Wüten der ekligen dahingleitenden Pflanzen, und eine Tierwelt, die nur ein Ziel hat: das Fressen. Blaster können dagegen nichts ausrichten. Unheimliche Selva! Doch vorläufig, solange der Schutzgürtel seine Wirksamkeit behält, kann die Selva kein Grauen erregen. Alles kann aus den Fugen geraten, bloß die Aggregate der Schutzgürtel nicht!“
Henry Wirt sah flüchtig auf den Geschwindigkeitsanzeiger.
Der leuchtende Zeiger hatte die Höchstgrenze erreicht.
Sven und Henry schwiegen. Sven verglich gewissenhaft das sich vor ihnen entfaltende Bild des Geländes mit der Karte.
Henry hing seinen eigenen Gedanken nach. Er wollte nicht glauben, daß seiner Osa irgend etwas zugestoßen war.
Als zwanzig Minuten nach ihrem Start vergangen waren, rief Wirt die Zentrale.
„Nik, hörst du mich gut?“
„Ausgezeichnet. Warum sprichst du so schnell? Ist etwas passiert?“
„Alles normal. Und bei euch?“
„Erli hat soeben vom Hauptpult aus gesprochen.“ Nikolai dehnte die Worte bedächtig. Seine Stimme war tief und heiser.
„Esra und Jumm brauchen wir nicht mehr zu suchen, es gibt sie nicht mehr.“
„Wieso?“
„Er hat weiter nichts gesagt.“
„Überhaupt nichts?“
„Nichts, Henry.“
„Du hast so eine eigenartige Stimme, Nik. So heiser, daß man Gänsehaut bekommen kann.“
Unter ihnen war wieder die eintönige, schmutziggrüne Selva.
Sven wandte sich zu Wirt: „Wenn alles in Ordnung geht, werden wir in einer Stunde die Basis Nummer zwei sehen können. Wieviel Menschen waren dort?“
„Dort sind vier!“ entgegnete Henry, und Thomson begriff, daß sein „waren“ nicht richtig gewesen war. „Osa, Wytschek, Jürgens und Stap, das sind vier Mann.“
„Es gelingt mir nicht, ruhig zu werden, Henry.“
„Danke, es ist besser so… Es wäre aufschlußreich, zu wissen, ob die Verbindung gleichzeitig mit allen Basen abriß oder nicht.“
„Vielleicht nicht ganz gleichzeitig. Eva ist doch nicht sofort zum Verbindungspult gerannt. In diesen wenigen Minuten hat viel geschehen können.“
„Und wenn es die Selva gewesen ist?“
„Zur gleichen Zeit in allen Basen? Allein die Vorstellung fällt einem schwer.“
Es waren weitere zwanzig Minuten vergangen. Wirt rief abermals die Zentrale.
„Nik, verstehst du mich gut?“
Als Antwort erklang ein tiefes, heiseres Brummen. In Traikows Kehle würgte und krächzte etwas.
„Nikolai! Was ist passiert? Was ist los?“
Das Brummen wurde allmählich leiser und verstummte völlig.
„Sven, verstehst du irgendwas?“
„Wir kehren um!“
„Ich habe dich gefragt, ob du etwas verstehst!“
„Bei ihnen ist etwas vorgefallen, Henry. Wir müssen umkehren.“
„Hier ist mit allen etwas geschehen. Umkehren werden wir jedenfalls nicht. Na, was ist? Du verstehst mich doch, nicht wahr, Sven? Du hast alles verstanden, stimmt’s?“
„Ich kehre um.“
„In kaum einer Stunde werden wir wissen, was auf der zweiten Basis passiert ist.“
„Und wenn nun die drei in der Zentrale unsere Hilfe brauchen?“
„Tu, was du denkst.“ Wirt lehnte sich gleichgültig im Sessel zurück.
Der Hubschrauber machte eine jähe Wendung.
„Nimm dich zusammen, zum Teufel noch mal!“ schrie Sven.
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