„Na schön“, sagte Sven leise. „Mögen alle darüber entscheiden.“
Nikolai kam aus dem Bad und hatte eine Spritze in der Hand.
Er rieb Evas Arm mit einem alkoholgetränkten Wattebausch ein und gab die Injektion. Henry hatte sich urplötzlich in einen Sessel fallen lassen, die Augen geschlossen, sich zurückgelehnt und war in leichte Schaukelbewegungen übergegangen, wobei er sich mit den Händen an den Lehnen festhielt.
Eva öffnete die Augen, ließ ihren Blick ungläubig im Zimmer umherschweifen und flüsterte kaum hörbar: „Jungens…“
„Beruhige dich, Eva.“ Sven trat zu ihr und war ihr beim Aufrichten behilflich. Mit einer Handbewegung in Erlis Richtung:
„Erli Kosales, Journalist und Physiker. Er ist mit uns hierhergeflogen…“
Das Mädchen saß mit angewinkelten Beinen da und stützte sich auf den rechten Arm. „Demnach bin ich also gar nicht verrückt?“
„Was ist hier vor sich gegangen?“ fragte Sven mit Entschiedenheit.
„Ich weiß nicht, was passiert ist. Doch ich will alles erzählen, was ich weiß. Vier Tage nach eurem Abflug vom Eremiten hat Stakowski bekanntgegeben, daß sich alle für den Flug zu den Basen fertigmachen sollten. Daran waren wir in periodischen Abständen von früher her gewöhnt. Es wunderte sich also niemand. Die Vorbereitungen wurden getroffen. Am zehnten Tag waren dann nur noch Esra, Jumm und ich auf der Zentralstation. Alle anderen waren mit Hubschraubern zu den Basen geflogen.“
„Alle außer euch dreien?“
„Ja.“
„Auch Osa ist zu ihrer Basis geflogen?“ fragte Henry beiläufig.
„Ja. Man hat versucht, sie zum Hierbleiben zu überreden, doch sie bestand darauf, daß man sie ebenfalls wegschickte.“
„Wann hätten sie alle zurück sein müssen?“
„Am neunzehnten; außer denen natürlich, die ständig auf den Basen leben.“
„Was hatte Stakowski vorgeschlagen?“ fragte Sven.
„Das weiß ich nicht. Ich habe nur gehört, wie Esra zu Jumm gesagt hat, Stakowski wolle beweisen, was eine Schaukel sei.“
„Eine Schaukel?“ fragte Sven zurück.
„Was für eine Schaukel?“ wollte Erli wissen.
„Das weiß ich nicht.“ Eva zuckte die Achseln. „Esra und Jumm saßen in dem Raum, wo das Regelungspult war, also im Stab. Von dort aus gibt es Verbindung zu allen Basen. Da ist auch der Computer. Sie hatten mich nach Kaffee geschickt, einem ganz gewöhnlichen Kaffee. Ich war hinuntergegangen, denn der Kaffee stand in Thermosbehältern in der Bar. Ich hatte einen genommen und mich wieder nach oben begeben.
Das alles hatte nicht länger als zwei Minuten gedauert, so war es mir jedenfalls vorgekommen. Als ich in den Pultraum kam, waren Esra und Jumm nicht mehr da. Dort, wo sie gesessen hatten, sah ich zwei Skelette und Stücke zerrissener Kleidung…“ Eva bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und schüttelte den Kopf. „Das ist furchtbar.“
Sven hockte sich auf den Rand der Couch und löste die Hände des Mädchens vom verweinten Gesicht. „Was war dann?“
„Ich war erschrocken. Ich konnte mir nicht erklären, was hier passiert war. Das war am schlimmsten. Ich nahm mit allen Basen gleichzeitig Verbindung auf, aber niemand antwortete.
Die Funkanlagen funktionierten nicht. Ich verließ die Kuppel und schlug die Tür hinter mir zu. Vielleicht gelingt es mir, sie vom Sektor der Außenverbindung zu erreichen, hoffte ich; denn von dort aus ist die Verbindung des Pultes doppelt so stark. Aber auch da gab es keine Antwort. Und mir wurde bewußt, daß ich auf diesem Planeten vollkommen allein war, ohne zu wissen, was mit den anderen geschehen war und was mit mir bereits im nächsten Moment, in der folgenden Minute passieren würde.
Ich allein war übriggeblieben. Das war grauenhaft. Ich raffte mich auf, in den Raum mit dem Hauptpult zu gehen. Die Materialien mußten in Ordnung gebracht werden, denn ihr mußtet ja auf den Eremiten kommen! Ich war verpflichtet, euch den Auftrag zu erleichtern, wenigstens irgendwie zu helfen. Aber der Rechenautomat gab nichts von sich, er war leer, keine einzige Information war darauf! Als hätte ihn jemand absichtlich gelöscht. Die Bänder der registrierenden Anlagen waren verschwunden. Alles war verrostet, zersplittert und zerstört.
Nicht ein einziges Dokument war übriggeblieben, mit dessen Hilfe man sich hätte ein Bild darüber verschaffen können, was auf den Basen in jenen zwei Stunden vor der Katastrophe getan worden war. Ihr werdet dort überhaupt nichts vorfinden.“
Eva schwieg.
„Erzähl weiter, Eva. Wir sind jetzt fünf“, sagte Sven.
„Da setzten bei mir die Halluzinationen ein. Ich glaubte den Verstand zu verlieren. Davon wurde mir dann noch übler, noch grauenvoller. Manchmal sah ich Esra und Jumm. Sie laufen im Zentralgebäude umher. Immerzu streiten sie. Aber sie können ja gar nicht hier sein, weil sie doch tot sind. Trotzdem laufen sie hier herum. Ist das der Irrsinn? So viel kann ein Mensch nicht aushalten. Welchen Tag haben wir heute?“
„Den dreiundzwanzigsten.“
„Der Wahnsinn hat demnach zwölf Tage gedauert. Sehe ich aus wie eine Verrückte?“
„Du bist völlig gesund, Eva“, sagte Nikolai. „Du bist nur sehr müde.“
„Ich fürchte mich.“
„Jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben, Eva.“ Sven legte seinen Arm um ihre Schulter. „Hast du in deinem Bericht nichts Wesentliches weggelassen?“
„Nein… Ich bin so müde.“
„Eva, du wirst sofort einschlafen. Du mußt dich ausruhen.“
„Ihr werdet mich doch nicht allein hierlassen? Bestimmt nicht?“
„Eva, du wirst allein hierbleiben müssen. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Das mußt du verstehen.“
„Gut, ich werde schlafen. Aber nicht länger als zwei Stunden.
Das wird vollkommen genügen.“
„Schlaf, Eva.“
Die vier verließen das Zimmer.
Das Mädchen begleitete sie mit einem Blick voller Hoffnung.
Nun waren sie fünf.
Erli verließ die Unterkunft und blickte um sich. Ringsumher war es wundervoll! Kleine Hütten lagen verstreut inmitten eines riesigen, schattigen Parkes. Der weiße Komplex der Zentralstation schien im endlosen blauen Himmel zu schweben. Weiches, grünes Gras und wilde Blumen, genau wie auf der Erde. Seltsame, sinnverwirrende Düfte, auf die er früher überhaupt nicht geachtet hatte — alles war ungewohnt, neu und unbekannt.
Er schaute sich um und schalt sich wegen seiner Sentimentalität. Vor ihm waren der Eremit mit seiner dichten Selva und tausend ungelöste Probleme. Zweihundertzehn Menschen, ausgestattet mit den modernsten Mitteln der Fortbewegung, der Funkverbindung und der Verteidigung, waren nicht zur Zentralbasis zurückgekehrt.
Und abermals wurde ihm übel, genau so, wie er es schon erlebt hatte, als er Eva auf dem Arm trug. Hätte er Zeit gehabt, dieses Gefühl zu analysieren, wäre ihm klargeworden, daß dies Angst war. Die Angst, daß er Lej nie wiedersehen wird. Eine lähmende, fürchterliche Angst, die dem Menschen gar nicht bewußt wird, so daß er nicht einmal weiß, daß er Angst empfindet.
„Was werden wir nun weiter tun?“ fragte Sven Thomson.
„So wie jetzt ist’s unmöglich.“ Er deutete auf die anderen.
„Wir müssen irgendwas unternehmen.“
Henry Wirt lag im Gras, das Gesicht nach unten, und schien zu weinen. Nikolai kaute nervös auf den Lippen.
„Es ist fast eine Stunde vergangen“, sagte Erli, „und wir wissen immer noch nichts. Wir müssen einen Aktionsplan aufstellen. Es ist doch nicht denkbar, daß alle auf einmal…“
„Warum habt ihr mich nicht zu Osa gelassen?“ schrie Henry.
„Warum?“ Und er hämmerte mit der Faust auf das Gras.
Sven sprang zu ihm, zog ihn mit einem Ruck vom Boden hoch und rüttelte ihn kräftig. „Henry! Komm zu dir! Laß dich nicht so gehen!“
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