„Gut, wir werden das mit zu den unerklärbaren Erscheinungen rechnen. Und noch was: Solange wir dort waren, hat sich die Sonne zwei Stunden lang nicht vom Platz gerührt, nicht einmal für eine Winkelsekunde.“
„Eine Sekunde hättest du überhaupt nicht feststellen können.“
„Das hab’ ich ja auch nur so gesagt. Mit einem Wort, sie hat sich nicht von der Stelle gerührt.“
„Die Sonne geht dort ein halbes Jahr lang nicht unter“, sagte Osa leise. Ohne den Kopf zu drehen, sah sie weiter aus dem Fenster. „Das hatte ich euch doch bereits gesagt!“
Alle schwiegen.
„Sven“, sagte Henry, „sag lieber, was du dir dabei gedacht hast. Das wird am besten sein.“
„Wir werden das mit in Betracht ziehen“, meinte Erli. „Doch vorläufig hilft uns das nicht weiter und erklärt überhaupt nichts. Und von allein wird es sich nicht erklären. Was noch, Sven?“
„Vorläufig nichts.“
„Erli, gib ruhig zu, daß du dachtest, ich sei wohl nicht mehr ganz klar im Kopf, als ich von Esra und Jumm gesprochen habe.“
„Ja, ich habe tatsächlich nicht geglaubt, daß so etwas möglich ist.“
„Kann sein, daß Sven und auch Seona die Wahrheit sagen.
Vielleicht haben sie gar nicht gesponnen.“
„Ich bitte euch“, brachte Henry leise heraus.
„Eva, jetzt kommst du ‘ran.“
„Nachdem ich die sterblichen Überreste von Esra und Jumm gesehen hatte und völlig allein war, habe ich sie etliche Male selbst getroffen. Sie laufen in der Zentrale umher. Besonders häufig erscheinen sie im Verbindungsabschnitt, also unmittelbar hier. Heute habe ich sogar nach ihnen geschossen. Die Nerven sind mir durchgegangen. Die Kugeln sind durch Esra hindurchgegangen, haben die Tür und eine Wand im Korridor durchbohrt, aber er ist ruhig weitergelaufen. Erli hat sie ebenfalls gesehen.“
„Ja, ich habe sie gesehen. Doch ich kann nicht erklären, was das für ein Vorgang ist. Ist das alles, Eva? Dann soll Nik berichten.“
„Ich habe die Energiespeicher geprüft, und dabei sah ich sie beim fünften Speicher. Sie sind auch jetzt noch dort. Ich sehe sie ganz genau. Sie scheinen irgend etwas zu montieren. Ich bin überzeugt, daß sie keine Beziehung zu den Menschen haben, die früher hier gelebt und gearbeitet haben. Sie sind alle dunkelhäutig und braungebrannt, jeder von ihnen hat irgendeine Waffe auf dem Rücken. Außerdem haben sie ein Mehrzweckmobil, das unserem überhaupt nicht gleicht. Es hat zwei Türme, aus denen einige Rohre herausragen.“
„Was denkst du über die ganze Sache?“
„Ich nehme an, daß es irgendwelche Fremdlinge sind. Auf dem Eremiten gibt es ja kein vernunftbegabtes Leben. Nicht einmal Säugetiere sind vorhanden. Sie müssen also von irgendwoher gekommen, das heißt geflohen sein. Vielleicht sind es sogar diejenigen, die vor uns hier waren? Sie haben abgewartet, bis alle auf die Basen geflogen waren, dann haben sie zwischen den einzelnen Basen die Energiebarrieren errichtet, damit die Funkverbindung unterbrochen war. Wenn sie in der Lage wären, so starke Kraftfelder zu schaffen, dann könnten sie auch einen noch nie dagewesenen Orkan gemacht haben, der alle Basen vernichtet hat. Alles Weitere hat dann die Selva selbst erledigt. Der Planet war sauber, doch plötzlich sind wir aufgetaucht, als sie sich bereits als die Herren wähnten. Nun führen sie wieder etwas im Schilde. Möglicherweise wollen sie die Energiespeicher beschädigen. In diesem Falle würde Hunderte von Kilometern im Umkreis nichts mehr übrigbleiben.
Eine lächerliche Hypothese, nicht wahr?“
„Eine recht interessante Hypothese. Weshalb sollten sie uns aber eigentlich nicht viel einfacher um die Ecke bringen?
Einfach mit ihren Waffen erschießen?“
„Das weiß ich nicht. Kann sein, daß sie zu wenige sind und daß sie Angst haben. Aber es ist auch denkbar, daß sie den Anblick von Blut nicht ertragen können. Es ist alles nur meine Vermutung.“
„Ja, Nik, du hast fast das gesamte Tatsachenmaterial in deine Hypothese aufgenommen, aber doch nicht alles. Übrig sind Esra und Jumm, die unbewegliche Sonne und die Verschiedenheit im Ablauf der Stunden.“
„Erli, wir können es ja auch mit zwei völlig verschiedenen Vorgängen zu tun haben, die in keinerlei Verbindung oder Zusammenhang miteinander stehen“, meinte Eva. „Der unterschiedliche Stundenablauf kann durch etwas völlig anderes bedingt sein.“
„Und was machst du damit, daß im Hauptsteuerungspult alles in Staub verwandelt ist? Ungefähr zehn bis zwanzig Meter nach beiden Seiten von der festgesetzten Linie des Äquators.
Dort sieht doch alles genauso aus, als seien nicht wenige Tage vergangen, sondern einige Jahrhunderte! Ich habe alles bis zur Grenze der Sperrzone kontrolliert. Es ist in Niks Hypothese ebenfalls nicht berücksichtigt.“
„Ich erhebe ja auch keinerlei Anspruch auf absolute Richtigkeit…“
„Ist klar, Nik.“
„Vielleicht haben wir es aber doch mit zwei verschiedenen Vorgängen zu tun“, sagte Eva.
„Ja, das müssen wir vorläufig auch annehmen. Mich beunruhigt dabei nur der Umstand, daß sie zeitlich zusammenfallen.
Irgendwie müssen sie also doch zusammenhängen.“
Eva bereitete Tee und belegte Brote gleich am Verbindungspult zu. Sie hatten alle schon lange nichts mehr gegessen. Osa blieb weiter am Fenster stehen. Zuweilen versuchte Eva, mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber es geriet sehr rasch wieder ins Stocken. Eva setzte sich einige Male ihr gegenüber auf das Fensterbrett und betrachtete sie verstohlen. Sie hatte Osa schon vorher gekannt. Eine plötzlich aufgetauchte Vermutung ließ ihr keine Ruhe mehr, doch sie hatte keinen Mut, laut zu äußern, was sie dachte. Irgend etwas hielt sie davon ab. In der gegenüberliegenden Ecke des Raumes sah Erli den Inhalt der Kiste durch, die von der zweiten Basis mitgebracht worden war. Er legte die Diagramme stoßweise aufeinander. Das Papier war häufig beschädigt, deshalb hantierte er äußerst sorgsam. Selbst wenn auf der zweiten Basis alle registrierenden. Apparaturen ununterbrochen Tag und Nacht in Betrieb gewesen wären, hätte noch längst nicht diese ungeheure Menge an Dokumenten zustande kommen können. Das fiel ihm sofort auf. Er blätterte die Stöße mit den grafischen Darstellungen in der Hoffnung durch, so etwas wie einen Brief oder eine Erklärung zu finden.
Die Kiste war aber schon fast leer, und er hatte nichts dergleichen gefunden. Da knüpfte er die Päckchen auf, und gleich das erste fiel ihm aus der Hand. In der Ecke jedes Diagramms stand ein Datum. Doch das waren recht seltsame Daten. Das erste lautete: „Zweitausendeinhundertfünfundneunzigster Tag nach der Katastrophe“. Er blätterte das gesamte Päckchen durch, und am Ende war er beim zwanzigsten Tag angekommen. Noch frühere Daten gab es auf den Diagrammen nicht.
Das eine Päckchen enthielt Aufzeichnungen über die Windgeschwindigkeit, im anderen waren die Temperaturen notiert, im nächsten der Luftdruck, dann die Beschleunigung der Zeit, für zwei Plätze, die nur zehn Meter voneinander entfernt waren.
Das war ein unbeträchtlicher Abstand für eine derartige Untersuchung.
Was gab es hier für Zahlenangaben! Besonders für die ersten Tage. Ja, für die ersten. Aus dem Diagramm ging auf den ersten Blick hervor: In der zweiten Basis waren seit dem Moment der Katastrophe fünfzehn Jahre vergangen. Dann brachen die Aufzeichnungen ab. Von den allerersten Tagen gab es wahrscheinlich deshalb keine Aufzeichnungen, weil die Menschen mit der Selva um ihre Existenz gerungen hatten. Sie waren am Leben geblieben, und jetzt half ihre Arbeit Erli beim Orientieren in den bisherigen Ereignissen.
Vieles davon konnte man jetzt richtig einordnen. Es war nun klar, warum Sven versichert hatte, daß sich die Sonne während ihres Aufenthaltes in der zweiten Basis nicht einmal für eine Winkelsekunde von der Stelle bewegt hatte. Klar war ebenfalls, weshalb sie behauptet hatten, sie seien sechs und nicht vier Stunden geflogen. Selbst wenn sie in der zweiten Basis einige Tage lang gewesen wären, hätten sie bei ihrer Rückkehr in die Zentrale immer wieder erfahren, daß inzwischen nur vier Stunden vergangen waren. Der Wechsel von Tag und Nacht, also eine Umdrehung des Eremiten um seine eigene Achse, bedeutete für die gesamte Breite der zweiten Basis anderthalb Jahre.
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