„Zunächst habe ich alle gesammelt, und erst dann kam ich zu euch in der Hoffnung, wenigstens die Manuskripte dazu vorzufinden. Ich habe mich nicht getäuscht. Alle Manuskripte sind hier.“
„Nicht alle“, sagte Tschesnokow. „Die letzten habe ich sogar Annetschka nicht mehr vorgetragen.“ — „Diese hier?“
„Ja.“
„So entstand spontan ein Kreis von Dichtern, die ›Ihre‹ Verse aufschrieben. Irgendwie haben sie einander gefunden, aufgespürt. Es sind zehn Mann. Serjegin haben sie zu ihrem Vorsitzenden gewählt.“
„Das weiß ich alles“, brachte Tschesnokow ruhig und bedächtig hervor. „Ich kann Ihnen in keiner Weise nützlich sein.“
„Ich habe eine Hypothese“, sprach Pionow. „Absolut phantastisch. Vielleicht ist es tatsächlich so, daß nicht Sie das alles schreiben.“ Pionow war automatisch zum „Sie“ übergegangen.
„Vielleicht schreiben wirklich die anderen? Und Ihr Gehirn reagiert so exakt und präzis auf eine bestimmte Strömung, daß es sie im gleichen Moment aufnimmt. Und es ist absolut nicht zu beweisen, daß sie bei Ihnen zuerst entstehen.“
Annetschka biß sich auf die Lippen.
„Telepathie!“ brachte Kondratjuk mühsam hervor und fühlte, wie sich sein Gesicht mit kaltem Schweiß bedeckte.
„Ja, ja. Nein doch! Was soll hier die Telepathie? Darum geht es gar nicht.“
„Schon gut!“ sagte Tschesnokow. „Ich danke Ihnen für die Mühe. Immerhin ist es ein Zeichen von Anteilnahme.“
„Das ist es ja“, der Redakteur der Jugendzeitung machte zum ersten Male während dieses Gespräches den Mund auf, „daß dies alles Unsinn ist.“
„Telepathie gibt’s nicht.“ Kondratjuk atmete erleichtert auf.
„leb hab’ davon gehört.“
„Weshalb sind für alle diese Dichter“, der Redakteur tippte mit den Fingerspitzen auf den Papierstoß, „gerade diese Verse die Ausnahme in ihrem Schaffen?“
„Ja, das stimmt“, unterstützte ihn Pionow, „es werden ein, zwei Gedichte geschrieben oder, wie bei Serjegin, ein ganzer Band, und weder vorher noch nachher gelingt wieder etwas auch nur annähernd Ähnliches. Dafür aber schreibt dann ein anderer etwas in der Art. Abermals ist es auch bei ihm eine deutliche Ausnahme. Bei dir aber ist es System. Es ist unverwechselbar. So nehmen sie deine Verse vielleicht durch ein Wunder unmittelbar aus deinem Gehirn in ihr eigenes auf?
Und diese Verse stammen in der Tat von dir? Begreifst du, es sind deine Verse!“ Er lehnte sich zufrieden im Stuhl zurück und warf den anderen einen triumphierenden Blick zu.
„Aber es läßt sich nicht beweisen“, sagte Timofej Fjodorowitsch. „Leider.“
„Wozu denn beweisen?“ fragte Tschesnokow.
„Doch, es ist möglich“, widersprach Pionow. „Es ist schwierig, aber möglich. Theoretisch läßt es sich machen, wenn man weiß, bei wem sie zuerst entstehen. Irgendeinen Zeitunterschied muß es geben. Nehmen wir mal an, ihm, besagtem Mann, ist am Abend die Tinte ausgegangen, oder er hat kein Papier mehr. Es ist also nichts zum Weiterschreiben da. Am nächsten Morgen hat sich alles derartig zusammengestaut, daß es ihn fast erdrückt. Da hast du den Zeitunterschied. Du konntest in der Zwischenzeit schreiben. Der Unterschied muß also stets zu deinen Gunsten ausfallen.“
„Und ich soll deshalb immer die Tintenfässer offenhalten?“
Tschesnokow lachte.
„Das ist wirklich zum Lachen“, meinte Anja.
„Man muß die Öffentlichkeit mobilisieren“, ließ sich Kondratjuk mit einem Ratschlag vernehmen. „Die Öffentlichkeit, sie vermag alles.“
„Und wenn du die gesamte Öffentlichkeit auf den Kopf stellst…“, stöhnte Timofej Fjodorowitsch.
„In diesem Falle muß man sich an die ›Technik der Jugend‹
wenden“, schlug Kondratjuk wieder vor. „Dort werden noch ganz andere Sachen gedruckt.“
„Nein, nein“, sagte der Redakteur, „hier hilft auch kein Zeitvorsprung. Was sind schon ein, zwei Tage? Und wenn man es dann mit so einem Menschen zu tun hat wie mit Serjegin?
Abgesehen von allem übrigen, hat er Ambitionen, kann reden, und über das Urheberrecht weiß er wie kein anderer Bescheid!
Versuchen kann man es natürlich. Wir haben uns übrigens entschlossen, ein paar von Ihren Gedichten zu drucken, soll uns daraus entstehen, was will. Immerhin ist es etwas Definitives.“
„Ja, Wladimir, eine Auswahl von Gedichten ist dir sicher.“
„Haben Sie ihn endlich rumgekriegt“, freute sich Kondratjuk.
Die Geschichte hatte ihn direkt in Rührung versetzt. Er spürte sogar den Wunsch, seinem Nachbarn zu helfen. Warum sollte er immer leer ausgehen? Aber wie war ihm zu helfen?
„Von rumkriegen kann hier gar keine Rede sein“, schnitt ihm der Redakteur das Wort ab. „Es ist einfach unser Entschluß.“
„Ich habe nichts dagegen“, warf Tschesnokow müde ein. Er war offensichtlich sehr niedergeschlagen. Seine Frau nahm vorsichtig seine Hand und streichelte sie behutsam.
„Wir glauben unbedingt, daß dies Ihre Verse sind. Sie müssen unter Ihrem Namen erscheinen“, sagte Timofej Fjodorowitsch mit Entschiedenheit.
„Im Moment bin ich davon nicht überzeugt.“
Die Gäste verabschiedeten sich spät. Kondratjuk hatte kein Verständnis für diese Sache. Da fällt das Glück einem Menschen von selbst zu, und er stößt es zurück. Daß Tschesnokow gut schreiben konnte, davon war Kondratjuk überzeugt.
Schließlich kamen solche Leute nicht umsonst zu ihm!
Als sie sich trennten, schwor Pionow, einen Artikel zu schreiben. Er wußte zwar noch nicht für welche Zeitung, aber schreiben würde er ihn. Und Timofej Fjodorowitsch sprach, wie immer, überhaupt nicht, er dachte nur von den Tschesnokows: Die Menschen haben es doch schwer. Aber warum hat man in ihrer Wohnung den Eindruck von Glück?
Tschesnokow schickte nichts an die Zeitung. Pionow schrieb immerhin einen geistreichen Artikel, in dem er die Tatsachen ausführlich darlegte, die rätselhafte Erscheinung und das Schicksal des allen unbekannten, talentierten Dichters betreffend, und schickte ihn an „Das Literarische Rußland“. Monate später ging eine Antwort darauf ein, in der mitgeteilt wurde, daß die Zeitung äußerst selten wissenschaftliche Phantastik publiziere und sich augenblicklich nicht in der Lage sehe, die Erzählung zu veröffentlichen. Pionow regte sich ungemein auf, schrieb der Zeitung einen scharfen Brief, erhielt aber keine Antwort. Trotzdem hoffte er weiter, irgendwann einmal die Richtigkeit seiner Thesen beweisen zu können und Tschesnokow in seine Rechte einzusetzen.
Zwei- bis dreimal im Jahr war er bei Tschesnokows zu Gast, aber immer seltener bat er Wladimir darum, der Zeitung etwas einzureichen. Später versetzte man ihn an eine andere Arbeitsstelle nach Moskau, an eine der zentralen Zeitungen.
Bei Tschesnokows wurde ein Sohn geboren, später noch ein Sohn und eine Tochter. Mit den Kleinen gab es viel zu tun. Zu diesem Zeitpunkt hätte Tschesnokow wohl an die zwei Dutzend Bücher gehabt, falls es gelungen wäre, die Gedichte zusammenzufassen.
Seine erste Erzählung schrieb Tschesnokow, als der älteste Sohn, damals noch der einzige, drei Monate alt war. Seit dieser Zeit schrieb er immer seltener Gedichte. Mehr und mehr fühlte er sich zur Prosa hingezogen. Zunächst waren es kürzere, traurige Erzählungen, doch von feinem Humor. Dann kamen längere, ernsthafte. Einmal riskierte er eine Novelle. Abermals sah er sie alle in Zeitschriften und Sammelbänden unter fremden Namen. Der spontan entstandene Dichterkreis „Staunen“
zerfiel wieder, weil immer seltener Verse entsprechenden Stils und Ausdrucks im Druck erschienen.
Aber wer schrieb nun eigentlich diese Verse und Erzählungen? Pionow hatte nichts beweisen können. Er war überzeugt davon, daß alles von Tschesnokow stammte, doch dafür brauchte man Beweise. Und Tschesnokow selbst? Natürlich war es für ihn bedrückend, zu sehen, daß irgend jemand seine Werke im Nu empfing und als die eigenen ausgab, ohne im mindesten daran zu zweifeln. Noch schlimmer aber wäre gewesen, wenn er selbst, Tschesnokow, die Fähigkeit besäße, Gedichte und Erzählungen anderer Autoren, die seiner eigenen Verfassung entgegenkamen, im Flug einfach aufzunehmen. Er dachte viel darüber nach, besonders nach dem denkwürdigen Gespräch mit Pionow und Timofej Fjodorowitsch. Er war felsenfest davon überzeugt, daß er es war, der alles schrieb.
Читать дальше