»Was hier geschieht«, sagte ich, »ist, dass die Population, dass die Menschen lernen, ihre Fähigkeiten weiterzugeben. Dass sie nicht nur wissen, wie man Feuersteine schlägt, sondern dass sie auch anderen Menschen zeigen, wie man es macht und wie man die Arbeit ökonomisch aufteilt. Kooperation ergibt mehr zu essen. Die Bevölkerung wächst. Mehr Menschen kooperieren noch effizienter und entwickeln neue Fertigkeiten. Ackerbau. Viehhaltung. Lesen und Schreiben — was bedeutet, dass Fertigkeiten noch besser weitergegeben und sogar vererbt werden können an spätere Generationen.«
»Also verläuft die Kurve immer steiler — bis wir in uns selbst ertrinken.«
»Nicht zwangsläufig. Es gibt andere Kräfte, die die Kurve nach rechts ziehen. Wachsender Wohlstand und technisches Können wirken zu unseren Gunsten. Wohlgenährte, in Sicherheit lebende Menschen tendieren dazu, ihre Reproduktion zu begrenzen. Technologie und eine flexible Kultur geben ihnen die Mittel dazu. Letzten Endes, meinte jedenfalls Wun, wird die Kurve sich wieder nach rechts neigen.«
Ina schien verwirrt. »Dann gibt es also gar kein Problem? Keine Hungersnot, keine Überbevölkerung?«
»Unglücklicherweise ist die Bevölkerungskurve für die Erde noch weit davon entfernt, waagrecht zu verlaufen. Und wir haben es mit einschränkenden Bedingungen zu tun.«
»Einschränkende Bedingungen?«
Noch ein Diagramm. Eine Kurve, die wie ein kursives S verlief, am höchsten Punkt waagrecht. Darüber zeichnete ich zwei parallele horizontale Linien: die eine, mit A bezeichnete, ein gutes Stück über der Trendkurve, die andere, mit B bezeichnete, schnitt die Kurve im Aufschwung.
»Was sind das für Linien?«, fragte Ina.
»Beide kennzeichnen die Erhaltungsmöglichkeit des Planeten. Wie viel Ackerland zur Verfügung steht, Treibstoff und Rohstoffe, um die Technik am Laufen zu halten, saubere Luft, sauberes Wasser. Das Diagramm zeigt den Unterschied zwischen einer erfolgreichen und einer scheiternden intelligenten Spezies. Eine Spezies, die ihre größte Zahl unterhalb des Limits erreicht, hat das Potenzial, langfristig zu überleben. Und kann sich all den Dingen zuwenden, von denen die Science-Fiction-Autoren immer geträumt haben: ins Sonnensystem, in die Galaxis expandieren, Zeit und Raum manipulieren.«
»Wie großartig.«
»Immer sachte. Die Alternative ist unerfreulicher. Eine Spezies, die an die Nachhaltigkeitsgrenzen stößt, bevor sie ihre Bevölkerungszahl stabilisiert hat, ist höchstwahrscheinlich zum Untergang verurteilt. Hungersnöte, versagende Technik und ein Planet, der von der Zivilisation so erschöpft ist, dass er sich nicht mehr regenerieren kann.«
»Verstehe. Und was sind jetzt wir? Fall A oder Fall B? Hat Wun Ihnen das gesagt?«
»Alles, was er mit Sicherheit sagen konnte, war, dass beide Planeten, die Erde wie der Mars, auf ihr jeweiliges Limit zusteuerten. Und dass die Hypothetischen intervenierten, bevor sie es überschreiten konnten.«
»Aber warum haben sie interveniert? Was erwarten sie von uns?«
Das war eine Frage, auf die Wuns Volk keine Antwort wusste. Genauso wenig wie wir.
Nein, das ist nicht ganz richtig: Jason Lawton hatte eine Art Antwort gefunden.
Aber ich war noch nicht bereit, darüber zu sprechen.
Ina gähnte. Ich verwischte die Zeichnungen auf dem staubigen Fußboden, und sie knipste die Schreibtischlampe aus. Die weit verstreuten Nachtlampen gaben ein erschöpftes Licht ab. Außerhalb der Lagerhalle ertönte etwa alle fünf Sekunden ein Geräusch, das wie der Schlag einer riesigen gedämpften Glocke anmutete.
»Ticktack«, sagte Ina, während sie sich auf ihrer Matratze aus schimmliger Pappe einrichtete. »Ich erinnere mich an die Zeit, als die Uhren noch tickten. Sie auch, Tyler? Diese altmodischen Uhren?«
»Meine Mutter hatte eine in der Küche.«
»Es gibt so viele Sorten Zeit. Die Zeit, nach der wir unser Leben messen. Monate und Jahre. Oder die große Zeit, die Zeit, die Berge wachsen und Sterne entstehen lässt. Oder all die Dinge, die zwischen zwei Herzschlägen geschehen. Es ist schwer, in all diesen Zeiten zu leben. Und leicht zu vergessen, dass man in allen lebt.«
Das metronomische Scheppern ging weiter.
Im trüben Licht konnte ich gerade noch ihr müdes Lächeln erkennen.
»Ich glaube, ein Leben ist genug für mich«, sagte sie.
Am Morgen erwachten wir vom Geräusch einer aufgerissenen Ziehharmonikatür, begleitet vom Einfall grellen Lichts. Jala rief nach uns.
Ich eilte die Treppe hinunter. Jala war schon in der Lagerhalle, Diane kam langsam hinter ihm her.
Ich trat näher und sagte ihren Namen.
Sie versuchte zu lächeln, aber sie hatte die Zähne zusammengebissen und ihr Gesicht war unnatürlich blass. Und ich bemerkte, dass sie ein zusammengefaltetes Tuch auf eine Stelle über ihrer Hüfte presste und dass sowohl das Tuch als auch ihre Baumwollbluse rot leuchteten vom Blut, das hindurchgesickert war.
Acht Monate nach Wun Ngo Wens Rede vor den Vereinten Nationen begannen die gekühlten Zuchtbecken im Perihelion-Labor, nutzlastfähige Mengen marsianischer Replikatoren hervorzubringen, und in Canaveral und Vandenberg wurden die Delta-7-Flotten bereit gemacht, um sie ins All zu tragen. Ungefähr um diese Zeit entstand in Wun der dringende Wunsch, den Grand Canyon zu sehen. Auslöser für sein Interesse war eine Ausgabe der Zeitschrift Arizona Highways gewesen, die einer von den Biologen in seinem Quartier hatte liegen lassen.
Er zeigte sie mir einige Tage später. »Schauen Sie.« Beinahe zitternd vor Eifer, blätterte er die Seiten einer Fotoreportage über die Wiederinstandsetzung des Bright-Angel-Wanderwegs auf. Der Colorado River, der durch präkambrischen Sandstein schnitt und einzelne grüne Tümpel bildete. Ein Tourist aus Dubai auf einem Maultier. »Haben Sie schon mal davon gehört, Tyler?«
»Ob ich schon mal was vom Grand Canyon gehört habe? Ja, ich glaube, die meisten Leute haben das.«
»Er ist wirklich erstaunlich. Sehr, sehr schön.«
»Spektakulär. So heißt es. Aber ist nicht gerade der Mars für seine Schluchten berühmt?«
Er lächelte. »Sie sprechen von den Gefallenen Landen. Ihre Leute haben sie Valles Marineris genannt, als sie sie vor sechzig Jahren — vor hunderttausend Jahren — vom Weltraum aus entdeckten. Teile davon sehen diesen Fotografien tatsächlich sehr ähnlich. Aber ich bin nie dort gewesen. Und ich nehme auch nicht an, dass ich noch einmal Gelegenheit dazu haben werde. Ich glaube, ich würde stattdessen gerne den Grand Canyon besuchen.«
»Dann besuchen Sie ihn. Dies ist ein freies Land.«
Wun quittierte die Redensart — womöglich war es das erste Mal, dass er sie hörte — mit einem Blinzeln und nickte. »Ja, das mache ich. Ich werde mit Jason über die Reisemöglichkeiten sprechen. Möchten Sie nicht mitkommen?«
»Was, nach Arizona?«
»Ja, Tyler, nach Arizona, zum Grand Canyon.« Er mochte ein Vierter sein, aber in diesem Augenblick klang er eher wie ein Zehnjähriger. »Wollen Sie mit mir hinfahren?«
»Darüber muss ich nachdenken.«
Ich war noch mit Nachdenken beschäftigt, als ich einen Anruf von E. D. erhielt.
Seit Preston Lomax’ Wahl zum Präsidenten war E. D. Lawton politisch unsichtbar geworden. Seine Kontakte zur Industrie bestanden zwar noch — wenn er eine Party schmiss, konnte man davon ausgehen, dass mächtige Leute auftauchten —, doch er würde nie wieder die Art von Einfluss geltend machen können, derer er sich zu Garlands Amtszeit erfreut hatte. Es gab sogar Gerüchte, dass er sich in einem Zustand psychischen Verfalls befand, eingebunkert in seine Wohnung in Georgetown, von wo aus er ehemalige politische Verbündete mit unerwünschten Anrufen behelligte. Das mochte wohl so sein, aber weder Jason noch Diane hatten in letzter Zeit von ihm gehört, daher war ich einigermaßen perplex, als ich den Hörer abnahm und seine Stimme hörte.
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