»Vergeltungmaßnahmen von den Hypothetischen? Sie wissen nichts über die Hypothetischen, was wir nicht auch wissen.«
»Das behaupten sie. Braucht aber nicht zu heißen, dass sie nicht Angst vor ihnen hätten. Was uns betrifft — wir sind die Arschlöcher, die vor nicht allzu langer Zeit einen nuklearen Angriff auf die Polarartefakte unternommen haben. Ja, wir nehmen die Verantwortung auf uns, warum nicht? Herrgott, mach die Augen auf, Tyler! Das ist das klassische Täuschungsmanöver. Könnte kaum abgefeimter sein.«
»Vielleicht sind Sie aber auch nur paranoid.«
»Bin ich das? Wer bestimmt, was Paranoia in Spinzeiten heißt? Wir alle sind paranoid. Denn wir alle wissen, dass böse Mächte unser Leben kontrollieren, und schon damit entsprechen wir der Definition von Paranoia.«
»Ich bin ja nur praktischer Arzt. Aber intelligente Menschen sagen mir…«
»Du meinst natürlich Jason. Jason sagt, dass alles gut wird.«
»Nicht nur Jason. Die Regierung. Der größte Teil des Kongresses.«
»Aber die sind vom Rat der Eierköpfe abhängig. Und die Eierköpfe sind von all dem genauso hypnotisiert wie Jason. Willst du wissen, was deinen Freund antreibt? Furcht. Er hat Angst davor, unwissend zu sterben. Wenn er unwissend stirbt, dann heißt das in der Situation, in der wir uns befinden, dass die menschliche Spezies unwissend stirbt. Und das macht ihm eine Scheißangst, diese Vorstellung, dass eine ganze, dem Vernehmen nach intelligente Spezies aus dem Universum getilgt werden kann, ohne dass sie begreift, warum und wozu. Anstatt mir Paranoia zu bescheinigen, solltest du mal über Jasons Größenwahn nachdenken. Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den Spin zu verstehen. Da taucht Wun auf und hält ihm ein Werkzeug hin, das diesem Zweck zu dienen scheint, und natürlich greift er zu. Das ist so, als würde man einem Pyromanen ein Streichholz hinhalten.«
»Wollen Sie wirklich, dass ich ihm das erzähle?« »Ich…« E. D. wirkte plötzlich verdrossen, vielleicht war aber auch sein Alkoholspiegel zu hoch gestiegen. »Ich dachte, weil er auf dich hört…«
»Das glauben Sie nicht im Ernst.«
Er schloss kurz die Augen. »Vielleicht nicht. Ich weiß nicht. Aber ich muss es versuchen. Verstehst du das? Für mein Gewissen.« Ich war verblüfft über sein Bekenntnis, eines zu besitzen. »Lass mich offen zu dir sein. Ich habe das Gefühl, als würde ich einem Zugunglück in Zeitlupe zusehen. Die Räder schweben schon in der Luft, und der Zugführer hat es noch nicht bemerkt. Was mache ich also? Ist es zu spät, die Notbremse zu ziehen? Zu spät, ›Achtung‹ zu schreien? Vermutlich. Aber er ist mein Sohn, Tyler. Der Mann, der den Zug fährt, ist mein Sohn.« »Er ist in keiner größeren Gefahr als wir alle.« »Ich glaube, das stimmt nicht. Selbst wenn diese Sache gelingt, werden wir daraus nicht mehr gewinnen als abstrakte Information. Jason ist damit zufrieden, doch der Rest der Welt wird damit nicht zufrieden sein. Du kennst Preston Lomax nicht. Ich schon. Lomax wäre nur zu gern bereit, Jason einen Fehlschlag anzuhängen und ihn der Meute zum Fraß vorzuwerfen. In seiner Regierung gibt es eine Menge Leute, die Perihelion dichtmachen oder dem Militär überantworten wollen. Und das sind noch die besten Varianten, die ich hier ausmale. Im ungünstigsten Fall werden die Hypothetischen sauer und schalten den Spin ab.«
»Sie befürchten also, dass Lomax Perihelion dichtmacht?«
»Ich habe Perihelion aufgebaut — ja, ich mache mir deswegen Sorgen. Doch das ist nicht der Grund, warum ich hier bin.«
»Ich kann Jason weitergeben, was Sie gesagt haben, aber glauben Sie, dass er darauf hören wird?«
»Ich…« Mit wässrigen Augen inspizierte er die Tischplatte. »Nein. Natürlich nicht. Aber wenn er reden möchte… Er soll wissen, dass ich erreichbar bin. Wenn er reden möchte. Ich würd’s ihm nicht zur Qual machen. Ehrlich.« Es war, als hätte er eine Tür geöffnet und seine ganze Einsamkeit würde hervorsprudeln.
Jason vermutete, dass E. D.s Erscheinen in Florida Teil irgendeines machiavellistischen Plans war. Beim alten E. D. wäre das vielleicht zutreffend gewesen, aber der neue E. D. erschien mir wie ein alternder, seiner Macht entkleideter Mann, der seine Pläne am Grund eines Glases fand und den es aus einem plötzlichen Schuldbewusstsein heraus hierher verschlagen hatte.
Mit sanfter Stimme fragte ich: »Haben Sie versucht, mit Diane zu sprechen?«
»Diane?« Er machte eine abwinkende Geste. »Diane hat ihre Telefonnummer geändert. Ich kann sie nicht erreichen. Außerdem hat sie sich ganz diesem beschissenen Weltuntergangskult hingegeben.«
»Es ist kein Kult. Nur eine kleine Kirche mit ein paar seltsamen Ideen. Es ist eher Simon, der sich da engagiert, nicht sie.«
»Sie ist vom Spin paralysiert. Genau wie der Rest eurer verdammten Generation. Sie hat sich kopfüber in diesen religiösen Quatsch gestürzt, als sie kaum aus der Pubertät raus war. Ich kann mich noch gut erinnern. Plötzlich kam sie an und hat beim Abendessen Thomas von Aquin zitiert. Ich wollte, dass Carol mit ihr darüber spricht. Aber Carol war nicht zu gebrauchen, typisch. Und weißt du, was ich dann gemacht habe? Ich habe ein Streitgespräch veranstaltet. Sie und Jason. Sechs Monate lang hatten sie über Gott diskutiert, also habe ich die Sache auf formelle Beine gestellt, so im Stil einer Collegedebatte, und der Trick dabei war, dass beide jeweils für die Sache argumentieren mussten, die sie nicht vertraten: Jason musste die Existenz Gottes verteidigen und Diane musste den atheistischen Standpunkt einnehmen.«
Davon hatten sie mir nie erzählt. Aber ich konnte mir gut vorstellen, mit welchem Unwohlsein sie sich dieser Erziehungsmaßnahme unterzogen hatten.
»Es sollte ihr demonstrieren, wie einfältig sie war. Sie hat ihr Bestes gegeben, ich glaube, sie wollte mich beeindrucken. Sie hat im Wesentlichen das wiedergegeben, was Jason zu ihr gesagt hatte. Aber Jason…« E. D.s Stolz war nicht zu übersehen. »Jason war brillant. Einfach unfassbar brillant. Er gab ihr jedes Argument zurück, das sie ihm je vorgesetzt hatte, und setzte dann noch eins drauf. Und er hat das Zeug nicht einfach nur nachgeplappert. Er hatte theologische Schriften gelesen, hatte sich mit der ganzen Bibelgelehrsamkeit beschäftigt. Und er hat die ganze Zeit gelächelt, so als wolle er sagen: Sieh her, ich kenne diese Argumente in- und auswendig, ich kenne sie mindestens genauso gut wie du, ich kann sie im Schlaf hersagen, und trotzdem halte ich sie für zutiefst falsch. Er war völlig unnachgiebig, und schließlich hat sie nur noch geweint. Sie hat bis zum Ende durchgehalten, aber die Tränen sind ihr nur so übers Gesicht gelaufen.«
Ich starrte ihn an.
Er fing meinen Blick auf. »Steck dir deine moralische Überheblichkeit sonst wohin, Tyler. Ich wollte ihr eine Lektion erteilen. Ich wollte, dass sie sich der Realität stellt und nicht eine von diesen spinverrückten Autisten wird. Eure ganze Scheißgeneration…«
»Interessiert es Sie, ob sie noch lebt?«
»Ja, natürlich.«
»Niemand hat in letzter Zeit von ihr gehört. Sie sind nicht der Einzige, der sie nicht erreichen kann. Ich habe mir überlegt, dass ich versuchen könnte, sie aufzuspüren. Was halten Sie davon?«
Doch die Kellnerin brachte einen neuen Drink, und E. D. verlor das Interesse an dem Thema, an mir, an der Welt um ihn herum. »Ja, ich möchte wissen, ob’s ihr gut geht.« Er nahm seine Brille ab und reinigte die Gläser mit einer Serviette. »Ja, tu das, Tyler.«
Und so beschloss ich, mit Wun Ngo Wen nach Arizona zu fahren.
Mit Wun zu reisen, war so ähnlich, als würde man einen Popstar oder einen hohen Politiker begleiten — viel Sicherheitsvorkehrungen, wenig Spontaneität, aber alles perfekt organisiert. Nach einer streng aufeinander abgestimmten Folge von Flugplatzabsperrungen, Charterflügen und Straßenkonvois landeten wir schließlich am Ausgang des Bright Angel Trails, drei Wochen vor den geplanten Replikatorenstarts, an einem Julitag, der so heiß war wie Feuerwerk und so klar wie ein Flussquell.
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