»Wir unterhalten uns von Zeit zu Zeit. Ich glaube nicht, dass er genug Ehrgeiz besitzt, um der Antichrist zu sein.« Obwohl E. D. Lawton mir an dieser Stelle vermutlich widersprochen hätte.
»Trotzdem ist dies auch ein Punkt, der uns zur Vorsicht veranlasst. Deswegen war es auch ein Problem für Diane, den Kontakt zu ihrer Familie aufrechtzuerhalten.«
»Weil Wun Ngo Wen der Antichrist sein könnte?«
»Weil wir nicht die Aufmerksamkeit mächtiger Personen auf uns lenken wollen, so nahe am Ende der Tage.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.
»Tyler ist lange unterwegs gewesen«, sagte Diane. »Er hat bestimmt Durst.«
Simons Lächeln flammte wieder auf. »Möchtest du vor dem Essen noch etwas trinken? Wir haben jede Menge Limonaden. Magst du Mountain Dew?«
»Ja, ausgezeichnet.«
Er ging aus dem Zimmer. Diane wartete, bis seine Schritte auf der Treppe zu hören waren. Dann legte sie den Kopf schief und sah mich richtig an. »Du bist weit gefahren.«
»Es gab keine andere Möglichkeit, dich zu erreichen.«
»Aber du hättest dir nicht die Mühe machen müssen. Ich bin gesund und glücklich. Das kannst du Jase mitteilen. Und natürlich auch Carol. Und E. D., falls es ihn interessiert. Ich brauche keine Kontrollbesuche.«
»Das ist auch keiner.«
»Du wolltest nur mal Hallo sagen?«
»Ja, so etwas in der Art.«
»Wir sind keinem Kult beigetreten. Ich stehe unter keinem Zwang.«
»Hab ich auch nicht behauptet.«
»Aber du hast daran gedacht, oder?«
»Ich bin froh, dass es dir gut geht.«
Sie wandte den Kopf, und das Licht der untergehenden Sonne fiel auf ihre Augen. »Entschuldige. Ich bin einfach ein wenig verblüfft, dich so plötzlich hier zu sehen. Und ich bin froh, dass du gut zurechtkommst. Du kommst doch gut zurecht, oder?«
»Nein. Ich bin paralysiert. Jedenfalls glaubt dein Vater das. Er sagt, unsere ganze Generation sei vom Spin paralysiert. Wir sind immer noch gefangen in dem Augenblick, als die Sterne ausgingen, wir haben keinen Frieden damit geschlossen.«
»Und du glaubst, dass das wahr ist?«
»Wahrer vielleicht, als irgendeiner von uns zugeben würde.« Ich sagte Dinge, die ich überhaupt nicht geplant hatte. Aber Simon würde jeden Augenblick mit seiner Dose Mountain Dew und seinem beinharten Lächeln zurückkehren, und die Gelegenheit wäre unwiderruflich vertan. »Ich sehe dich an und sehe immer noch das Mädchen auf dem Rasen vor dem Großen Haus. Vielleicht hat E. D. also Recht. Fünfundzwanzig gestohlene Jahre. Sie sind ziemlich schnell vergangen.«
Diane nahm es schweigend hin. Warme Luft bewegte die Ginganvorhänge, das Zimmer wurde dunkler. Dann sagte sie: »Mach die Tür zu.«
»Würde das nicht ein bisschen ungewöhnlich aussehen?«
»Mach die Tür zu, Tyler, ich möchte nicht, dass jemand mithört.«
Also schloss ich die Tür, ganz vorsichtig, und sie erhob sich, kam zu mir, fasste mich an den Händen. Ihre Hände waren kühl. »Wir sind dem Ende der Welt zu nahe, um einander zu belügen. Es tut mir Leid, dass ich nicht mehr angerufen habe, aber es sind vier Familien, die sich ein Haus und ein Telefon teilen — es ist leicht zu erkennen, wer telefoniert und wohin.«
»Simon hat es nicht erlaubt.«
»Im Gegenteil, Simon hätte es akzeptiert. Simon akzeptiert die meisten meiner Gewohnheiten und Eigenarten. Aber ich möchte ihn nicht belügen, diese Last möchte ich nicht tragen. Ich muss allerdings zugeben, dass mir unsere Gespräche fehlen, Tyler. Diese Gespräche waren wie Rettungsleinen. Als ich kein Geld hatte, als die Kirche sich gespalten hat, als ich mich ohne Grund einsam gefühlt habe… der Klang deiner Stimme war wie eine Transfusion.«
»Warum dann damit aufhören?«
»Weil es illoyal ist. Damals. Und jetzt.« Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie mir einen schwierigen, aber wichtigen Gedanken vermitteln. »Ich weiß, wie du das mit dem Spin meinst. Ich denke auch darüber nach. Manchmal tue ich so, als gäbe es eine Welt, in der der Spin nicht passiert und unser Leben anders verlaufen ist. Unser Leben, deins und meins.« Sie holte zitternd Luft, errötete heftig. »Und wenn ich schon nicht in dieser Welt leben kann, dachte ich, könnte ich sie wenigstens alle paar Wochen besuchen und dich anrufen, und wir könnten alte Freunde sein und uns über etwas anderes unterhalten als das Ende der Welt.«
»Das hältst du für illoyal?«
»Es ist illoyal. Ich habe mich in Simons Obhut begeben. Er ist mein Ehemann. Selbst wenn das keine weise Entscheidung gewesen sein sollte, so war es doch meine Entscheidung, und ich bin vielleicht keine so gute Christin, wie ich sein sollte, aber ich habe doch ein Bewusstsein für Pflicht und Beharrlichkeit und dafür, zu jemandem zu stehen, selbst wenn… «
»Selbst wenn was, Diane?«
»Selbst wenn es wehtut. Ich glaube, keiner von uns beiden sollte weiter über das Leben nachdenken, das wir hätten haben können.«
»Ich bin nicht gekommen, um dich unglücklich zu machen.«
»Nein, aber diese Wirkung hat es.«
»Dann werde ich nicht bleiben.«
»Bleib zum Essen. Das ist ein Gebot der Höflichkeit.« Sie blickte zu Boden. »Lass mich dir noch etwas sagen, solange wir noch ungestört sind. Ich teile nicht alle von Simons Glaubensgrundsätzen. Ich kann nicht glauben, dass die Welt damit enden wird, dass die Gläubigen zum Himmel auffahren. Gott möge mir vergeben, aber das erscheint mir einfach nicht plausibel. Doch ich glaube, dass die Welt enden wird. Dass sie schon dabei ist zu enden. Schon angefangen hat, unser aller Leben zu beenden. Und…«
»Diane…«
»Nein, lass mich zu Ende sprechen. Lass mich beichten. Ich glaube, dass die Welt enden wird. Ich glaube, was Jason mir vor vielen Jahren erzählt hat — dass eines Morgens eine riesige Sonne aufgehen wird und dass dann in wenigen Stunden oder Tagen unsere Zeit auf der Erde abgelaufen ist. Und ich möchte an dem betreffenden Morgen nicht allein sein.«
»Das möchte niemand.« Außer vielleicht Molly Seagram, dachte ich. Molly, die den Film On the Beach mit ihrem Fläschchen voller Selbstmordpillen nachspielt. Molly und alle Leute ihresgleichen.
»Und ich werde nicht allein sein. Ich werde bei Simon sein. Was ich dir beichten möchte, Tyler — und wofür ich auf Vergebung hoffe —, ist, dass es, wenn ich mir diesen Tag ausmale, nicht unbedingt Simon ist, mit dem ich mich zusammen sehe.«
Die Tür ging polternd auf. Simon. Mit leeren Händen. »Jetzt steht das Essen doch schon auf dem Tisch«, sagte er. »Zusammen mit einem großen Krug Eistee für durstige Reisende. Komm mit runter und setz dich zu uns. Es ist für alle reichlich da.«
»Danke«, erwiderte ich. »Das klingt gut.«
Die acht Erwachsenen, die das Farmhaus gemeinsam bewohnten, waren die Sorleys, Dan Condon und seine Frau, die McIsaacs und Simon und Diane. Die Sorleys hatten drei Kinder, die McIsaacs fünf, sodass wir zu siebzehnt an einem großen, auf Böcke gestellten Tisch in dem an die Küche grenzenden Zimmer saßen. Daraus resultierte ein angenehmer Lärm, der andauerte, bis »Onkel Dan« den Tischsegen ankündigte, worauf sich unverzüglich alle Hände falteten und alle Köpfe senkten.
Dan Condon war das Alpha-Männchen der Gruppe. Er war groß und ernst, fast düster, auf eine Lincolnsche Weise hässlich. Indem er die Mahlzeit segnete, erinnerte er uns daran, dass es stets wohlgetan sei, einem Fremden Speis und Trank vorzusetzen, selbst in dem Fall, dass dieser Fremde ohne Einladung auf Besuch gekommen sei, Amen.
Nach der Art, wie die Unterhaltung geführt wurde, schloss ich, dass Bruder Aaron in der Hierarchie an zweiter Stelle stand und mit der Aufgabe betraut war, im Falle von Meinungsverschiedenheiten für klare Verhältnisse zu sorgen. Sowohl Teddy McIsaac als auch Simon ordneten sich ihm unter, hielten sich aber an Condon, wenn es um letztinstanzliche Urteile ging. War die Suppe zu salzig? »Genau richtig«, sagte Condon. Das Wetter in letzter Zeit ziemlich heiß? »Nicht sehr ungewöhnlich in dieser Gegend«, erklärte Condon.
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