Es waren hochprofessionelle Kriminelle. Sie hatten einen Straßenabschnitt vermint, der um ein sumpfiges Naturschutzgebiet herumführte, und verfügten über automatische Waffen und sogar Panzerabwehrraketen, und mit einem Brinks’s-Konvoi hätten sie kurzen Prozess gemacht: Fünf Minuten nach der ersten Erschütterung wären die Angreifer bereits weit im Moorgebiet verschwunden und würden die Beute unter sich aufteilen. Aber ihre Kundschafter hatten einen schwerwiegenden Fehler gemacht. Einen Banktransport aufs Korn zu nehmen, ist eine Sache, doch sich mit fünf schwergepanzerten Fahrzeugen voller Sicherheitspersonal und einem Mannschaftswagen von Elitesoldaten anzulegen, ist etwas ganz anderes.
Ich blickte durch die getönte Seitenscheibe und sah flaches grünes Wasser und kahle Zypressen vorübergleiten, als die Straßenlichter ausgingen.
Einer der Räuber hatte die unterirdischen Stromkabel gekappt. Plötzlich war die Dunkelheit richtig dunkel, eine schwarze Wand hinter dem Fenster, und ich sah nichts mehr außer meinem erschrockenen Spiegelbild. Ich sagte: »Wun…«
Aber er schlief weiter, sein faltiges Gesicht so ausdruckslos wie ein Daumenabdruck.
Dann fuhr das Führungsauto auf die Mine.
Die Erschütterung schlug wie eine Stahlfaust gegen unser Fahrzeug. Die Kolonne fuhr in gehörigem Abstand, doch wir waren trotzdem dicht genug dran, um zu sehen, wie der vordere Wagen in einer gelben Stichflamme emporschoss und brennend, mit umherfliegenden Reifen, auf den Asphalt zurückfiel.
Unser Fahrer schwenkte zur Seite und hielt an. Die Straße war blockiert. Dann gab es eine zweite Explosion am hinteren Ende des Konvois, eine weitere Mine, die den Straßenbelag brockenweise ins Sumpfgebiet schleuderte und uns jeglichen Fluchtweg abschnitt.
Wun war jetzt wach, verblüfft und ängstlich. Seine Augen waren so groß wie Monde und auch fast so hell.
In unmittelbarer Nähe knatterten Handfeuerwaffen. Ich duckte mich und zog auch Wun mit nach unten, wir saßen gekrümmt in unseren Sitzgurten und fummelten fieberhaft an den Verschlüssen. Der Fahrer zog eine Waffe irgendwo unter dem Armaturenbrett hervor und rollte sich aus der Tür hinaus. Gleichzeitig sprangen ein Dutzend Männer aus dem Mannschaftswagen hinter uns und begannen in die Dunkelheit zu feuern. Zivile Sicherheitsleute aus den anderen Fahrzeugen versuchten sich unserem Wagen zu nähern, um Wun zu schützen, wurden jedoch von heftigem Gewehrfeuer daran gehindert.
Der unerwartete Widerstand muss die Straßenräuber aus dem Konzept gebracht haben. Sie setzten jetzt schwere Waffen ein. Unter anderem eine raketengetriebene Granate, wie man mir später erzählte. Ich bekam nur mit, dass ich plötzlich taub war, unser Wagen um eine komplizierte Achse herum rotierte und die Luft geschwängert war von Rauch und Glassplittern.
Dann, ich weiß nicht wie, war ich aus der hinteren Tür heraus, das Gesicht auf den körnigen Asphalt gepresst, Blutgeschmack im Mund, und Wun war auch da, lag auf der Seite, ein oder zwei Meter von mir entfernt. Einer seiner Schuhe — die Wanderstiefel in Kindergröße, die er sich für den Canyon gekauft hatte — stand in Flammen.
Ich rief seinen Namen. Er bewegte sich schwach. Kugeln prasselten auf die Überreste des Autos hinter uns, schlugen kleine Krater in den Stahl. Mein linkes Bein war taub. Ich robbte näher heran und benutzte ein abgerissenes Stück Polsterung, um die Flammen am Schuh zu ersticken. Wun hob ächzend den Kopf.
Unsere Männer erwiderten das Feuer, Leuchtspurgeschosse fegten ins Moorgebiet zu beiden Seiten der Straße.
Wun krümmte den Rücken und kam auf die Knie. Er schien nicht zu wissen, wo er war. Er blutete aus der Nase. Die Haut auf der Stirn war aufgerissen.
»Nicht aufstehen«, krächzte ich.
Aber er versuchte weiter auf die Füße zu kommen, schleifte den verbrannten, stinkenden Stiefel über den Boden.
»Um Gottes willen«, sagte ich. Ich streckte die Hand nach ihm aus, doch irgendwie entwand er sich meinem Griff. »Um Gottes willen, nicht aufstehen!«
Aber schließlich schaffte er es, rappelte sich hoch und stand zitternd da, klar umrissen vor dem brennenden Autowrack. Er blickte nach unten, schien mich jetzt zu erkennen. »Tyler«, sagte er. »Was ist passiert?«
Dann fanden ihn die Kugeln.
Es gab eine Menge Leute, die Wun Ngo Wen hassten. Sie misstrauten seinen Absichten, so wie E. D. Lawton, oder verabscheuten ihn, weil sie glaubten, er sei ein Feind Gottes; weil seine Haut zufällig schwarz war; weil er für die Evolutionstheorie eintrat; weil er einen handfesten Beweis für den Spin und eine verstörende Wahrheit über das Alter des äußeren Universums verkörperte. Viele dieser Leute hatten sich verschworen, ihn zu töten; Dutzende von Morddrohungen waren in den Akten des Heimatschutzministeriums dokumentiert.
Doch es war keine Verschwörung, der er zum Opfer fiel. Es war eine Kombination aus Habgier, Verwechslung und vom Spin hervorgerufener Rücksichtslosigkeit.
Es war ein beschämend irdischer Tod.
Wuns Leichnam wurde — nach gründlicher Autopsie und Probenentnahme — eingeäschert, und er bekam ein Staatsbegräbnis mit allem, was dazugehört. Dem Trauergottesdienst in der National Cathedral in Washington wohnten Würdenträger aus allen Teilen der Welt bei. Präsident Lomax hielt eine ausführliche Rede.
Es hieß, man wolle seine Asche ins All schießen, aber dazu kam es dann doch nicht. Jason zufolge wurde die Urne vorläufig, bis zu einer Entscheidung über ihren endgültigen Verbleib, im Keller des Smithsonian Institute untergebracht.
Vermutlich steht sie dort heute noch.
Vor einbruch der Dunkelheit zu Hause
Ich verbrachte einige Tage in einem Krankenhaus in der Nähe von Miami, genas von leichteren Verletzungen, schilderte dem FBI meine Sicht der Ereignisse und versuchte, Wuns Tod zu verarbeiten. Es war in dieser Zeit, dass ich den Entschluss fasste, Perihelion zu verlassen und eine eigene Praxis zu eröffnen.
Ich beschloss aber auch, meine Absicht erst nach dem Replikatorenstart kundzutun; ich wollte Jason nicht zu einem so heiklen Zeitpunkt damit belasten.
Im Vergleich zu den gewaltigen Anstrengungen der Terraformung stellte der Abschuss der Replikatoren geradezu eine Antiklimax dar. Die Ergebnisse, so denn alles nach Plan verlief, würden weitaus großartiger ausfallen, aber die Unaufwändigkeit des Vorgangs — nur eine Hand voll Raketen wurde benötigt, kein cleveres Timing war erforderlich — verhinderte jede dramatische Wirkung.
Präsident Lomax ließ in dieser Sache nichts anbrennen. Trotz wütender Proteste seitens der EU, der Chinesen, Russen und Inder weigerte er sich, irgendjemand außerhalb des engsten Kreises wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Perihelion und der NASA Einblick in die Replikatorentechnologie zu gewähren, und hatte alle entsprechenden Passagen in den veröffentlichten Editionen der marsianischen Archive streichen lassen. »Künstliche Mikroben« (Lawton-Sprech) seien eine »Hochrisiko«-Technologie, sie könnten »waffenfähig« gemacht werden (dies war zutreffend, wie selbst Wun eingeräumt hatte), die USA seien daher verpflichtet, dieses brisante Wissen in »sichere Obhut« zu nehmen, um »nanotechnische Proliferation sowie einen neuen, tödlichen Rüstungswettlauf« zu verhindern.
Die Europäische Union hatte Beschwerde eingereicht und die UNO einen Untersuchungsausschuss eingesetzt, aber in einer Welt, in der auf vier Kontinenten lokale Konflikte brodelten, hatten Lomax’ Argumente ein beträchtliches Gewicht (obwohl, wie Wun ihm hätte entgegenhalten können, die Marsianer es seit mehreren Jahrhunderten schafften, mit eben dieser Technologie zu leben — und die Marsianer waren nicht mehr und nicht weniger menschlich als ihre terrestrischen Vorfahren).
Aus all diesen Gründen lockte der spätsommerliche Raketenstart in Canaveral nur wenige Menschen an und erregte kein sehr großes Medieninteresse. Wun Ngo Wen war schließlich tot, und die Sender hatten sich mit der Berichterstattung über seine Ermordung reichlich verausgabt — die auf den Offshore-Rampen installierten vier schweren Delta-Raketen schienen da eher wie eine Fußnote zu den Begräbnisfeierlichkeiten, oder, schlimmer noch, eine Wiederaufführung: die Saatguttransporte, neu aufbereitet für eine Zeit gesunkener Erwartungen.
Читать дальше