Wun stand dort, wo das Geländer dem Rand des Canyons folgte. Die Parkverwaltung hatte den Wanderweg und das Besucherzentrum für Touristen gesperrt und drei ihrer besten (und fotogensten) Ranger standen bereit, Wun und ein Kontingent von Bundesbeamten mit Schulterhalftern unter dem weißen Wanderoutfit auf eine Expedition in den Canyon hineinzuführen, wo man zum Übernachten Zelte aufschlagen würde.
Wun war für die Wanderung Ungestörtheit zugesagt worden, aber momentan war das Ganze noch ein einziger Zirkus. Der Parkbereich war von Übertragungswagen vollgestellt, Journalisten und Fotografen warfen sich wie verzweifelte Bittsteller in die Absperrseile, aus einem über der Canyonkante schwebenden Hubschrauber wurde gefilmt. Wun war trotzdem glücklich. Er grinste. Er saugte die Kiefernnadelluft in großen Zügen ein. Die Hitze war unerträglich, vor allem für einen Marsianer, hätte ich gedacht, doch er ließ keine Anzeichen von Erschöpfung erkennen, trotz des Schweißes, der auf seiner faltigen Haut glitzerte. Er trug ein leichtes Khakihemd, dazu passende Hosen und Wanderstiefel in Kindergröße, die er in den vergangenen Wochen schon eingelaufen hatte. Er nahm einen Schluck aus einer Aluminiumfeldflasche, bot sie dann mir an.
»Wasserbruder«, sagte er.
Ich lachte. »Behalten Sie es. Sie werden es brauchen.«
»Ich wünschte, Sie könnten mit mir zusammen nach unten steigen. Das hier ist…« Er sagte etwas in seiner eigenen Sprache. »Zu viel Kohl für einen Topf. Zu viel Schönheit für einen einzelnen Menschen.«
»Sie können sie jederzeit mit den FBI-Männern teilen.«
Er warf den Sicherheitsleuten einen bösen Blick zu. »Das kann ich leider nicht. Sie schauen, aber sie sehen nichts.«
»Ist das auch eine marsianische Redensart?«
»Klingt ganz so.«
Wun richtete noch einige liebenswürdige Abschiedsworte an die Pressemeute und den frisch eingetroffenen Gouverneur von Arizona, während ich mir eines der diversen Perihelion-Fahrzeuge auslieh und mich Richtung Phoenix aufmachte.
Niemand schritt ein, niemand folgte mir, niemand interessierte sich für mich. Ich mochte Wun Ngo Wens Leibarzt sein — einige von den Presseleuten hatten mich vielleicht sogar erkannt —, aber außerhalb von Wuns Dunstkreis war ich nicht nachrichtenrelevant. Nicht die Bohne. Ein gutes Gefühl. Ich drehte die Klimaanlage auf, bis das Wageninnere sich wie ein kanadischer Herbsttag anfühlte. Gut möglich, dass ich erlebte, was die Medien als »verzweifelte Euphorie« bezeichneten, dieses Wir-müssen-alle-sterben-aber-alles-ist-möglich-Gefühl, das seinen Höhepunkt ungefähr zu der Zeit erreichte, als Wun an die Öffentlichkeit trat. Das Ende der Welt — plus Marsianer: Was sollte angesichts dessen noch unmöglich sein? Oder auch nur unwahrscheinlich? Und was sollte man unter diesen Umständen noch mit einer Moral anfangen, die Anstand, Geduld und Tugend predigte, die mahnte, nicht über die Stränge zu schlagen?
E. D. hatte meine Generation beschuldigt, vom Spin paralysiert zu sein, und vielleicht war das ja auch so. Wir waren jetzt seit dreißig Jahren vom Scheinwerferlicht gebannt. Keiner von uns hatte je dieses Gefühl grundlegender Verletzlichkeit abschütteln können, diese intensive Wahrnehmung des Schwerts, das über unseren Köpfen schwebte. Dieses Gefühl trübte jedes Vergnügen, ließ selbst unsere besten und mutigsten Gesten vorläufig und unentschlossen wirken.
Aber auch die stärkste Lähmung nutzt sich irgendwann ab. Jenseits der Furcht liegt die Unbekümmertheit, jenseits der Starre der Tatendrang. Es sind allerdings nicht unbedingt gute oder besonnene Taten, die dabei herauskommen. Ich fuhr an Dutzenden von Warnschildern vorbei, die auf die Gefahr von Straßenpiraterie hinwiesen, und der Verkehrsreport im Radio vermeldete die »wegen polizeilicher Maßnahmen« gesperrten Straßen so emotionslos, als sei von Bauarbeiten die Rede. Dennoch schaffte ich es ohne Zwischenfälle bis zum Parkplatz hinter dem Jordan Tabernacle.
Der derzeitige Pfarrer war ein junger Mann mit Bürstenschnitt namens Bob Kobel, der sich am Telefon bereit erklärt hatte, mich zu empfangen. Er kam zum Auto, als ich es gerade abschloss, und führte mich ins Pfarrhaus, um mir Kaffee und Doughnuts und ein paar offene Worte anzubieten. Er sah aus wie ein ehemaliger Spitzensportler, der ein wenig rund um die Hüften geworden, aber immer noch vom alten Teamgeist erfüllt war.
»Ich habe nachgedacht über das, was Sie gesagt haben«, sagte er. »Ich verstehe, warum Sie in Kontakt zu Diane Lawton treten wollen. Aber verstehen Sie, warum das eine unangenehme Angelegenheit für unsere Kirche ist?«
»Nicht so richtig, nein.«
»Nun, danke für Ihre Offenheit. Dann lassen Sie mich erklären. Zum Pastor dieser Gemeinde bin ich erst nach der Kälberkrise geworden, doch ich bin schon seit vielen Jahren Mitglied. Ich kenne Diane und Simon. Ich habe sie einmal als meine Freunde betrachtet.«
»Jetzt nicht mehr?«
»Ich würde gern glauben, dass wir nach wie vor Freunde sind, aber da müssten Sie sie selber fragen. Sehen Sie, Dr. Dupree, für eine relativ kleine Gemeinde haben wir eine recht kontroverse Geschichte. Das liegt vor allem daran, dass wir anfangs eine Art Bastardkirche waren, ein Haufen von Dispensationalisten, der sich mit einigen desillusionierten New-Kingdom-Hippies zusammengetan hat. Was wir gemeinsam hatten, waren der starke Glaube daran, dass die Endzeit unmittelbar bevorsteht, und ein aufrichtiges Bedürfnis nach christlicher Gemeinschaft. Kein ganz leichter Zusammenschluss, wie Sie sich vorstellen können. Wir haben einiges an Glaubenskonflikten durchgemacht. Schismen, wenn Sie so wollen. Dogmatische Dispute, die für die Gemeinde, offen gesagt, gar nicht mehr nachzuvollziehen waren. Simon und Diane schlossen sich einer Gruppe eingefleischter Posttribulationisten an, die Jordan Tabernacle für sich beanspruchten. Daraus ergab sich eine schwierige Situation, das, was man in der säkularen Welt als Machtkampf bezeichnen würde.«
»Den sie verloren haben?«
»O nein. Sie übernahmen die Kontrolle, jedenfalls für eine Weile. Sie radikalisierten Jordan Tabernacle auf eine Weise, die viele von uns mit Unbehagen erfüllte. Dan Condon war einer von ihnen, derjenige, der uns mit diesem Netzwerk von Verrückten in Verbindung gebracht hat, die die Wiederkunft Christi mit Hilfe einer roten Kuh herbeiführen wollen. Was für eine Vermessenheit! Als würde der Herr erst noch auf ein Rinderzuchtprogramm warten, bevor er die Gläubigen versammelt.« Kobel nahm einen Schluck Kaffee.
»Ich kann zu ihrem Glauben nichts weiter sagen.«
»Sie erwähnten am Telefon, dass Diane keinen Kontakt zu ihrer Familie hat.«
»Ja.«
»Nun, vielleicht will sie es so. Ich habe ihren Vater früher oft im Fernsehen gesehen. Er machte einen ziemlich einschüchternden Eindruck.«
»Ich bin nicht hier, um sie zu entführen. Ich will mich nur davon überzeugen, dass es ihr gut geht.«
Noch ein Schluck Kaffee. Noch ein nachdenklicher Blick. »Ich würde Ihnen gern sagen können, dass es ihr gut geht. Und vermutlich ist es auch der Fall. Doch nach dem Skandal ist die ganze Gruppe hinaus in die Wildnis gezogen. Und einige von ihnen haben der Einladung, sich mit den Strafverfolgungsbehörden zu unterhalten, noch nicht Folge geleistet. Besuche sind daher nicht gern gesehen.«
»Aber nicht unmöglich?«
»Nicht unmöglich, wenn man ihnen bekannt ist. Ich bin nicht sicher, ob das für Sie gilt, Dr. Dupree. Ich könnte Ihnen den Weg erklären, doch ich bezweifle, dass sie Sie reinlassen.«
»Auch nicht, wenn Sie für mich bürgen?«
Kobel blinzelte. Er schien darüber nachzudenken. Dann lächelte er. Er nahm vom Schreibtisch hinter ihm ein Blatt Papier, auf das er eine Adresse sowie ein paar Zeilen Wegbeschreibung kritzelte. »Das ist eine gute Idee, Dr. Dupree. Sagen Sie ihnen, Pastor Bob hätte Sie geschickt. Aber seien Sie trotzdem vorsichtig.«
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