»Nun denn«, sagte sie jetzt, »wie betrunken soll es denn sein? Nur angeschickert oder sternhagelvoll? Vielleicht musst du’s aber auch nehmen, wie’s kommt. Die Bar ist im Moment etwas dünn bestückt.«
Sie mixte mir etwas, das hauptsächlich aus Wodka bestand und schmeckte, als sei es aus einem Benzintank gepumpt worden. Ich nahm die heutige Zeitung von einem Stuhl und setzte mich. Giselles Wohnung war recht anständig eingerichtet, aber mit dem Saubermachen hielt sie es nicht besser als ein College-Frischling im Studentenwohnheim. Bei der Zeitung war die Kommmentar- und Meinungsseite aufgeschlagen. Der Cartoon handelte vom Spin: die Hypothetischen waren als ein paar schwarze Spinnen gezeichnet, die die Erde mit ihren haarigen Beinen umklammerten. Der Text dazu: FRESSEN WIR SIE GLEICH ODER WARTEN WIR BIS ZUR WAHL?
»Das kapier ich überhaupt nicht«, sagte Giselle, ließ sich aufs Sofa nieder und deutete mit einem Fuß auf die Zeitung.
»Den Cartoon?«
»Die ganze Geschichte. Den Spin. ›Kein Zurück‹. Wenn ich die Zeitung lese, frag ich mich immer nur, äh… was ist los? Da ist irgendetwas auf der anderen Seite des Himmels und es ist uns nicht freundlich gesinnt. Das ist eigentlich alles, was ich weiß.«
Vermutlich hätte die Mehrheit der Menschheit diese Erklärung unterschreiben können, aber aus irgendeinem Grund — vielleicht war es der Regen, vielleicht das Blut, das heute in der Notaufnahme geflossen war — reagierte ich etwas ungehalten darauf. »So schwer ist es nicht zu verstehen.«
»Nein? Okay, warum passiert es also?«
»Um das Warum geht es nicht. Niemand weiß über das Warum Bescheid. Was aber das Was angeht…«
»Nein, ich weiß. Du brauchst mir keinen Vortrag zu halten. Wir stecken in einer Art kosmischem Sack, und das Universum gerät ins Trudeln, und so weiter und so fort.«
Was mich erneut reizte. »Du kennst doch deine eigene Adresse, oder?«
Sie nahm einen Schluck. »Natürlich.«
»Weil du nämlich gerne weißt, wo du bist. Ein paar Kilometer vom Meer entfernt, ein paar hundert Kilometer von der Grenze, ein paar tausend Kilometer westlich von New York, stimmt’s?«
»Stimmt, na und?«
»Was ich damit sagen will: die Leute können problemlos zwischen Spokane und Paris unterscheiden, aber wenn’s um den Himmel geht, sehen sie nichts als einen großen, amorphen, rätselhaften Klecks. Wie kommt das?«
»Ich weiß nicht. Weil ich mein ganzes Wissen über Astronomie aus Star Trek bezogen habe? Ich meine, wie viel muss ich denn wirklich über den Mond und die Sterne wissen? Dinge, die ich nicht mehr gesehen habe, seit ich ein kleines Kind war. Sogar die Wissenschaftler geben zu, dass sie die Hälfte der Zeit gar nicht wissen, wovon sie reden.«
»Und das findest du in Ordnung?«
»Was für ne Scheißrolle spielt es denn, was ich finde? Hör zu, vielleicht sollte ich den Fernseher anmachen. Wir können uns einen Film angucken, und du erzählst mir, warum du die Stadt verlassen willst.«
Sterne sind wie Menschen, sagte ich ihr. Sie leben und sterben in voraussagbaren Zeiträumen. Die Sonne altert rapide und je weiter das Altern voranschreitet, desto schneller verbraucht sie ihren Brennstoff, ihre Leuchtkraft nimmt alle Milliarden Jahre um zehn Prozent zu. Das Sonnensystem hat sich bereits so sehr verändert, dass die Erde unbewohnbar wäre, wenn der Spin von einem Tag auf den anderen aufhören würde. Kein Zurück mehr. »Das ist es, wovon in den Zeitungen die Rede ist. Es wäre gar nicht in den Nachrichten gewesen, wenn nicht Präsident Clayton in einer Rede offiziell zugegeben hätte, dass es nach Meinung der führenden Wissenschaftler keine Rückkehr zum Status quo ante geben könne.«
Worauf sie mich etwas unglücklich anstarrte »Dieser ganze Quatsch…«
»Es ist kein Quatsch.«
»Kann sein, aber es bringt mir nichts.«
»Ich wollte nur erklären…«
»Scheiße, Tyler. Hab ich dich um eine Erklärung gebeten? Nimm deine Albträume und geh nach Hause. Oder gib Ruhe und erzähl mir, warum du aus Seattle wegwillst. Es hat mit deinen Freunden zu tun, nicht wahr?«
Ich hatte ihr von Jason und Diane erzählt. »Hauptsächlich mit Jason.«
»Das sogenannte Genie.«
»Nicht nur sogenannt. Er ist in Florida…«
»Macht da irgendwas für die Satellitenleute, hattest du erzählt, oder?«
»Verwandelt den Mars in einen Garten.«
»Das stand auch in der Zeitung. Ist das wirklich möglich?«
»Ich habe keine Ahnung. Jason scheint es zu glauben.«
»Aber würde es nicht ewig lange dauern?«
»Ab einer bestimmten Höhe geht die Uhr schneller.«
»Aha. Und wofür braucht er dich?«
Tja, wofür? Gute Frage. Ausgezeichnete Frage. »Perihelion will einen Arzt für die interne Ambulanz einstellen.«
»Ich dachte, du wärst nur ein gewöhnlicher praktischer Arzt.«
»Bin ich auch.«
»Was qualifiziert dich dann dafür, ein Astronautendoktor zu werden?«
»Absolut nichts. Aber Jason…«
»Tut einem alten Kumpel einen Gefallen? Tja, hätte man sich denken können. Gott segne die Reichen, hm? Bleibt alles im Freundeskreis.«
Ich zuckte mit den Achseln. Sollte sie es ruhig glauben. Nicht nötig, Giselle einzuweihen, und außerdem hatte Jason ohnehin nichts Genaueres gesagt… Aber bei unserem Gespräch hatte ich den Eindruck gewonnen, dass er mich nicht nur als Betriebsdoktor haben wollte, sondern auch als seinen Leibarzt. Denn er hatte ein gesundheitliches Problem. Ein Problem, das er dem Perihelion-Personal nicht anvertrauen wollte, über das er am Telefon nicht reden wollte.
Giselle war zwar der Wodka ausgegangen, aber nachdem sie ein wenig in ihrer Handtasche gewühlt hatte, brachte sie einen in einer Tamponschachtel versteckten Joint zum Vorschein. »Wird gut bezahlt, möchte ich wetten.« Sie knipste ein Plastikfeuerzeug an, hielt die Flamme an die eingedrehte Spitze des Joints und nahm einen tiefen Zug.
»Wir haben noch keine Details besprochen.«
Sie stieß den Rauch aus. »Irgendwie nicht normal. Vielleicht hältst du es deswegen aus, die ganze Zeit an den Spin zu denken. Tyler Dupree, Autismuskandidat. Das bist du nämlich, weißt du. Alle Anzeichen sind da. Ich wette, dieser Jason Lawton ist genauso. Ich wette, er kriegt jedes Mal einen Steifen, wenn er das Wort ›Milliarde‹ ausspricht.«
»Unterschätz ihn nicht. Er könnte tatsächlich dazu beitragen, die menschliche Rasse zu erhalten.« Wenn auch nicht jedes einzelne Exemplar.
»Also, wenn das kein Streberprojekt ist. Und seine Schwester, die, mit der du geschlafen hast…«
»Einmal.«
»Einmal. Die ist religiös geworden, stimmt’s?«
»Stimmt.« War es wohl auch immer noch, soweit mir bekannt war. Seit jener Nacht in den Berkshires hatte ich nichts mehr von Diane gehört. Nicht, dass ich mich nicht darum bemüht hätte. Mehrere E-Mails waren allerdings unbeantwortet geblieben. Auch Jason hörte nicht viel von ihr, aber Carol zufolge lebte sie mit Simon irgendwo in Utah oder Arizona, einem Staat im Südwesten jedenfalls, den ich nie besucht hatte und von dem ich keine Vorstellungen besaß. Dorthin hatte es sie nach dem Zerfall der New-Kingdom-Bewegung verschlagen.
»Das ist auch nicht so schwer zu verstehen.« Giselle reichte mir den Joint. So richtig wohl war mir nicht, was das Kiffen anging, aber Giselles Bemerkungen über Autismus und Strebertum hatten vielleicht doch einen wunden Punkt getroffen. Ich nahm einen ausführlichen Zug, und die Wirkung war genau die gleiche wie beim letzten Mal in Stony Brook: augenblickliche Aphasie. »Es muss furchtbar für sie gewesen sein. Als das mit dem Spin passiert war, wollte sie nichts anderes, als nicht daran denken zu müssen, was aber das Letzte war, was du und ihre Familie zugelassen hätten. Ich wäre an ihrer Stelle auch religiös geworden. Im Scheißchor würde ich singen.«
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