»Diane«, sagte ich (oder flüsterte ich, krächzte ich).
Sie kam ins Zimmer. Sie trug Straßenkleidung, eine Überjacke mit Lederapplikation und einen breitkrempigen Hut, von dem das Regenwasser tropfte. Sie stand neben meinem Bett.
»Es tut mir Leid«, sagte sie.
»Brauchst dich nicht zu entschuldigen. Nur…«
»Ich meine, tut mir Leid, Tyler, aber du musst dich anziehen. Wir müssen hier weg. Sofort. Unten wartet ein Taxi.«
Ich brauchte eine Weile, um diese Information zu verarbeiten. Unterdessen war Diane schon dabei, Sachen in den Koffer zu werfen: Kleidung, Dokumente — sowohl echte als auch gefälschte —, Speicherkarten, ein gepolstertes Gestell mit kleinen Flaschen und Spritzen. »Ich kann nicht aufstehen«, versuchte ich zu sagen, aber die Worte kamen nicht richtig heraus.
Kurz darauf begann sie mich anzuziehen, und ich bewahrte mir ein bisschen Würde, indem ich meine Beine ohne Aufforderung anhob und die Zähne zusammenbiss, anstatt zu schreien. Ich setzte mich auf, und sie gab mir etwas Wasser aus der Flasche neben dem Bett. Dann führte sie mich ins Bad, wo ich ein dickflüssiges Rinnsal kanariengelben Urins von mir gab. »Verdammt«, sagte sie, »du bist völlig ausgetrocknet.« Sie gab mir mehr Wasser und eine Spritze mit Schmerzmittel, das in meinem Arm brannte wie Gift. »Tyler, es tut mir wirklich Leid!« Aber doch nicht so sehr, dass sie davon abgelassen hätte, mich in einen Regenmantel zu zwängen und mir einen schweren Hut auf den Kopf zu setzen.
Ich war aufmerksam genug, die Besorgnis in ihrer Stimme zu hören. »Wovor laufen wir weg?«
»Sagen wir einfach, ich hatte eine Begegnung mit einigen unangenehmen Leuten.«
»Und wo wollen wir hin?«
»Ins Landesinnere. Beeil dich!«
Also hasteten wir den Hotelflur entlang und die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Diane schleifte den Koffer mit der linken und stützte mich mit der rechten Hand. Es war ein langer Marsch. Die Treppe vor allem. »Hör auf zu stöhnen«, flüsterte sie einige Male. Ich gehorchte. Glaube ich jedenfalls.
Dann hinaus in die Nacht. Regentropfen prallten auf den schmutzigen Bürgersteig, zischten auf der Motorhaube eines überhitzten, mindestens zwanzig Jahre alten Taxis. Der Fahrer sah mich aus dem Schutz seines Wagens misstrauisch an. Ich starrte zurück. »Er ist nicht krank«, sagte Diane und setzte eine imaginäre Flasche an den Mund. Der Fahrer blickte finster drein, akzeptierte aber die Geldscheine, die sie ihm in die Hand drückte.
Die Wirkung des Narkotikums setzte ein, während wir fuhren. Die nächtlichen Straßen von Padang rochen abgestanden, nach feuchtem Asphalt und fauligem Fisch. Ölteppiche teilten sich wie Regenbögen unter den Rädern des Taxis. Wir verließen das Touristenviertel mit seinen Neonlichtern und fuhren in das Gewirr der Läden und Häuser hinein, das in den letzten dreißig Jahren um die Stadt herum gewachsen war, behelfsmäßige Slums, die peu à peu dem neuen Wohlstand wichen, den Bulldozern, die unter Abdeckplanen zwischen Blechdachhütten parkten. Mehrgeschossige Mietshäuser wuchsen wie Pilze aus dem Kompost der Sqattersiedlungen. Dann durchquerten wir das Industriegebiet, überall graue Mauern und Stacheldraht, und ich glaube, ich schlief wohl wieder ein.
Träumte nicht von den Seychellen, sondern von Jason. Von Jason und seiner Liebe zu Netzwerken (»nicht die technische Spielerei, sondern das Netz«), von den Netzwerken, die er geschaffen und bewohnt hatte, und davon, wo diese Netzwerke ihn hingeführt hatten.
Seattle, im September, fünf Jahre nach dem fehlgeschlagenen chinesischen Raketenangriff. Ein verregneter Freitag. Ich fuhr im Feierabendverkehr nach Hause. In meiner Wohnung angekommen, schaltete ich die Audioschnittstelle ein und rief eine Liste auf, die ich unter dem Titel »Therapie« zusammengestellt hatte.
Es war ein langer Tag in der Harborview-Notaufnahme gewesen. Zwei Schusswunden, ein Selbstmordversuch. An der Innenseite meiner Augenlider trieb sich noch eines der Bilder herum: Blut, das von den Rädern einer Rollbahre spritzt. Ich zog meine regenfeuchten Sachen aus, schlüpfte in Jeans und Pullover, goss mir etwas zu trinken ein und stellte mich ans Fenster, um das Flimmern der Stadt zu betrachten. Irgendwo da draußen war der lichtlose Raum des Puget Sound, von wogenden Wolken verdunkelt. Der Verkehr auf der I-5 war fast zum Stillstand gekommen, ein leuchtender roter Strom.
Mein Leben, im Wesentlichen so, wie ich es eingerichtet hatte. Und es hing ganz an einem Wort.
Dann sang Astrid Gilberto, voll Wehmut und ein bisschen falsch, über Gitarrenakkorde und Corcovado, aber ich war noch immer zu aufgedreht, um darüber nachzudenken, was Jason gestern Abend am Telefon gesagt hatte. Zu aufgedreht sogar, um die Musik so zu hören, wie es ihr angemessen war. »Corcovado«, »Desafinado«, ein paar Stücke von Gerry Mulligan, ein paar von Charlie Byrd. Therapie. Aber alles verschwamm im Geräusch des Regens. Ich schob mir etwas zu essen in die Mikrowelle und verzehrte es, ohne es zu schmecken; dann begrub ich alle Hoffnung auf karmische Gelassenheit und beschloss, an Giselles Tür zu klopfen, zu sehen, ob sie zu Hause war.
Giselle Palmer wohnte drei Türen weiter im gleichen Flur. Sie öffnete mir in zerschlissener Jeans und einem alten Flanellhemd, was dafür sprach, dass sie einen häuslichen Abend verbringen wollte. Ich fragte sie, ob sie beschäftigt sei oder ob sie vielleicht Lust habe, ein bisschen mit mir abzuhängen.
»Ich weiß nicht, Tyler. Du siehst ziemlich düster aus.«
»Es ist eher so, dass ich mich in einem Konflikt befinde. Ich denke daran, die Stadt zu verlassen.«
»Tatsächlich? So eine Art Geschäftsreise?«
»Nein, ich meine endgültig.«
»Oh?« Ihr Lächeln verflog. »Wann hast du denn das entschieden?«
»Ich hab mich noch nicht entschieden. Das ist ja der springende Punkt.«
Sie machte die Tür weiter auf und winkte mich hinein. »Im Ernst? Wo willst du denn hin?«
»Lange Geschichte.«
»Soll heißen, du brauchst erst einen Drink, bevor du darüber reden kannst?«
»So ungefähr.«
Giselle hatte sich mir letztes Jahr bei einer Mieterversammlung im Keller des Hauses vorgestellt. Sie war vierundzwanzig und reichte mir ungefähr bis zum Schlüsselbein. Sie arbeitete in einem Restaurant in Renton, doch als wir anfingen, uns sonntagnachmittags zum Kaffee zu treffen, erzählte sie mir, sie sei »eine Nutte, eine Prostituierte. Das ist mein Nebenjob.«
Gemeint war damit, dass sie einem lockeren Kreis von Freundinnen angehörte, in dem die Namen älterer (gesellschaftsfähiger, in der Regel verheirateter) Männer zirkulierten, Männer, die bereit waren, gutes Geld für Sex zu zahlen, aber einen Horror vor dem Straßenstrich hatten. Als sie mir das erzählte, hatte sie ihre Schultern gestrafft und sah mich herausfordernd an, für den Fall, dass ich schockiert oder abgestoßen wäre. War ich aber nicht. Wir lebten schließlich in Spin-Zeiten. Leute in Giselles Alter schufen sich ihre eigenen Regeln, ungeachtet möglicher Folgen, und Leute wie ich enthielten sich eines Urteils.
Wir tranken weiterhin zusammen Kaffee und gingen auch manchmal zum Essen, und einige Male schrieb ich ihr eine Überweisung, die sie für ihre Blutuntersuchungen brauchte. Ihrem letzten Test zufolge war Giselle HIV-negativ, und die einzige übertragbare Krankheit, gegen die sie Antikörper entwickelt hatte, war der Westnilvirus. Mit anderen Worten: sie war vorsichtig gewesen und hatte Glück gehabt.
Nun war es, berichtete Giselle, mit dem gewerblichen Sex allerdings so, dass er, selbst wenn er wie in ihrem Fall auf Amateurniveau betrieben wurde, das eigene Leben immer mehr prägte und vereinnahmte. Zusehends, sagte sie, werde man zu jemandem, der Kondome und Viagra mit sich herumträgt. Aber warum tat sie es dann, wenn sie doch auch, nur so als Beispiel, einen Nachtschichtjob bei Wal-Mart antreten konnte? Das war eine Frage, die ihr nicht gefiel, die sie defensiv beantwortete: »Vielleicht ist es ein Tick. Oder vielleicht auch ein Hobby, nicht wahr, so wie Modelleisenbahnen.« Ich wusste jedoch, dass sie vor Jahren in Saskatoon vor einem Stiefvater davongelaufen war, der sie missbraucht hatte, und es war nicht schwer, daraus Schlüsse zu ziehen. Und natürlich hatte sie dieselbe Entschuldigung für riskantes Verhalten, wie wir sie alle, die wir in einem bestimmten Alter waren, hatten: die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit unserer aller Auslöschung. Sterblichkeit übertrumpft die Moral, so hatte es ein Schriftsteller meiner Generation einmal ausgedrückt.
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