Es war eine atemberaubende Idee. Ich kam mir vor wie einer dieser Stichwortgeber in einem viktorianischen Abenteuerroman: » Es war ein kühner, ja tollkühner Plan, den er ersonnen hatte, aber ich konnte beim besten Willen keinen Schwachpunkt darin finden…«
Außer einem. Einem grundlegenden Schwachpunkt.
»Jason, selbst wenn das möglich wäre — was hätten wir davon?«
»Wenn der Mars bewohnbar ist, könnten Menschen dort leben.«
»Wir alle, sieben oder acht Milliarden?«
Er schnaubte. »Kaum. Nein, nur einige Pioniere. Zuchtexemplare, wenn man es ganz nüchtern betrachtet.«
»Und was sollen die da machen?«
»Leben, sich vermehren und sterben. Millionen von Generationen in jedem von unseren Jahren.«
»Zu welchem Zweck?«
»Um der menschlichen Rasse eine zweite Chance im Sonnensystem zu verschaffen. Und im besten Fall — nun, sie werden alles Wissen zur Verfügung haben, das wir ihnen mitgeben können, plus ein paar Millionen Jahre, um es weiterzuentwickeln. Innerhalb der Spin-Blase haben wir nicht genug Zeit, um zu ergründen, wer die Hypothetischen sind oder warum sie das mit uns machen. Unsere marsianischen Erben haben vielleicht eine bessere Chance. Vielleicht können sie uns ein wenig das Denken abnehmen.«
Oder das Kämpfen um unsere Existenz?
(Das war übrigens das erste Mal, dass ich den Ausdruck »die Hypothetischen« gehört hatte — die hypothetischen Steuerintelligenzen, die unsichtbaren und weitgehend theoretischen Wesen, die uns in unsere Zeitgruft eingesperrt hatten. Der Name setzte sich in der Öffentlichkeit erst einige Jahre später durch. Ich konnte mich allerdings damit gar nicht anfreunden. Ich empfand die Bezeichnung als zu distanziert, zu abstrakt. Die Wahrheit war bestimmt weitaus komplexer.)
»Es existiert also ein Plan, all diese Dinge tatsächlich ins Werk zu setzen?«
»O ja.« Jason hatte sein Steak zu drei Vierteln aufgegessen; er schob den Teller von sich. »Es ist gar nicht mal so teuer. Die einzig problematische Sache ist, widerstandsfähige Einzeller zu basteln. Die Marsoberfläche ist kalt, trocken, praktisch luftlos und wird jedes Mal, wenn die Sonne aufgeht, von sterilisierender Strahlung überschwemmt. Immerhin haben wir eine ganze Menge von Extremophilen, mit denen wir arbeiten können — Bakterien, die im antarktischen Packeis oder im Ausfluss von Atomreaktoren leben. Alles andere ist erprobte Technologie. Wir wissen, dass Raketen funktionieren. Wir wissen, dass organische Evolution funktioniert. Das einzig wirklich Neue ist unsere Perspektive. Imstande zu sein, die Ergebnisse einer extremen Langzeituntersuchung schon Wochen oder Monate nach dem Start auszuwerten. Das ist… einige nennen es ›teleologische Technik‹.«
»Das ist beinahe das Gleiche«, sagte ich, das neue Wort ausprobierend, das ich von ihm gelernt hatte, »wie das, was die Hypothetischen tun.«
»Ja.« Jason hob die Augenbrauen zu einem Gesichtsausdruck, den ich nach all den Jahren immer noch schmeichelhaft fand: Überraschung, Respekt. »Ja, in gewisser Weise ist es das wohl.«
Ich habe einmal ein interessantes Detail über die erste bemannte Mondlandung im Jahre 1969 gelesen. Damals, so hieß es in dem Buch, hätten sich viele Ältere — im neunzehnten Jahrhundert geborene Männer und Frauen, alt genug, sich noch an eine Welt ohne Automobile und Fernseher zu erinnern — geweigert, der Berichterstattung Glauben zu schenken. Worte, die in ihrer Kindheit nur im Zusammenhang mit einem Märchen Sinn ergeben hätten (»zwei Männer sind heute Abend auf dem Mond spazierengegangen«), traten ihnen nunmehr als Tatsachen entgegen. Das konnten sie nicht akzeptieren. Es widersprach ihrem Gefühl dafür, was vernünftig war und was nicht.
Mir erging es jetzt genauso.
Wir werden den Mars terraformen und kolonisieren, sprach mein Freund Jason und er litt keineswegs unter Wahnvorstellungen — jedenfalls nicht mehr als die klugen und mächtigen Menschen, die seine Überzeugung offensichtlich teilten. Das Ganze war also ernst gemeint und es musste, auf irgendeiner bürokratischen Ebene, sogar schon angelaufen sein.
Nach dem Essen machte ich, solange es noch hell war, einen Spaziergang. Mike, der Gartenmann, hatte gute Arbeit geleistet: Der Rasen leuchtete wie das Modell eines Mathematikers, Hege und Pflege einer Grundfarbe. Dahinter krochen schon die Schatten in den Wald. Diane würde es hier gefallen, kam es mir in den Sinn. Wieder dachte ich an jene Sommerzusammenkünfte am Bach, Jahre war es jetzt her, als sie uns aus alten Büchern vorgelesen hatte. Einmal, als wir über den Spin sprachen, zitierte sie einen Vers des englischen Dichters A. E. Housman:
Der Grizzlybär ist wild und groß,
Verschlingt das Kind, lässt’s nicht mehr los.
Das Kind hat nicht mal wahrgenommen,
Wie’s in den Bauch des Bär’n gekommen.
Jason telefonierte gerade, als ich durch die Küchentür wieder ins Haus trat. Er sah mich an, dann drehte er sich weg und senkte die Stimme.
»Nein«, sagte er. »Wenn es so sein muss, aber — nein, ich verstehe. Ist gut. Ich hab ist gut gesagt, oder? Ist gut heißt ist gut.« Er steckte das Telefon in die Tasche.
»War das Diane?«
Er nickte.
»Kommt sie?«
»Sie kommt. Aber es gibt ein paar Dinge, die ich erwähnen möchte, bevor sie hier ist. Das, worüber wir beim Essen gesprochen haben — davon dürfen wir ihr nichts sagen. Und übrigens auch sonst niemandem. Das sind keine für die Öffentlichkeit bestimmten Informationen.«
»Du meinst, sie sind unter Verschluss?«
»Formal gesehen, ja, vermutlich.«
»Aber du hast mir davon erzählt.«
»Ja. Das war ein Staatsverbrechen.« Er lächelte. »Und ich vertraue darauf, dass du es für dich behältst. Nur ein bisschen Geduld — in ein paar Monaten wird sich CNN damit überschlagen. Außerdem habe ich Pläne mit dir, Ty. Irgendwann in nächster Zeit wird Perihelion Kandidaten für ein extrem raues Siedlungsprojekt prüfen. Wir werden Ärzte aller Fachrichtungen an Ort und Stelle brauchen. Wäre es nicht toll, wenn du das machen könntest, wenn wir zusammen arbeiten könnten?«
Ich erschrak. »Ich hab gerade erst meine Prüfung gemacht, Jase. Ich habe noch keinerlei Praxis.«
»Alles zu seiner Zeit.«
»Du vertraust Diane nicht?«
Sein Lächeln verrutschte. »Nein, ehrlich gesagt. Nicht mehr. Nicht in dieser Sache.« »Wann wird sie hier sein?«
»Morgen Vormittag.«
»Und was ist es, das du mir nicht sagen willst?«
»Sie bringt ihren Freund mit.«
»Ist das ein Problem?«
»Du wirst schon sehen.«
Ich erwachte und mir war klar, dass ich nicht darauf vorbereitet war, sie wiederzusehen.
Erwachte in E. D.s plüschigem Sommerhaus in den Berkshires, die Sonne schien durch filigrane Spitzenjalousien, und ich dachte: Genug von dem Quatsch! Ich hatte die Nase voll davon. All der selbstsüchtige Blödsinn der letzten acht Jahre, bis hin zu der Affäre mit Candice Boone, die meine Lebenslügen schneller durchschaut hatte als ich. »Du bist ein bisschen fixiert auf diese Lawtons, wie?«, hatte sie einmal angemerkt. Ach, wie kommst du denn darauf?
Ich konnte nicht im Ernst behaupten, dass ich noch in Diane verliebt war. Die Beziehung zwischen uns war nie so eindeutig gewesen. Wir waren beide hinein- und wieder herausgewachsen, wie Weinreben, die durch einen Gitterzaun ranken. Aber in den besten Zeiten war es eine echte, eine enge Verbindung gewesen, getragen von einem in seiner Gewichtigkeit und Reife fast beängstigendem Gefühl. Weshalb ich so sehr darauf bedacht gewesen war, es zu tarnen — es hätte sonst auch ihr Angst gemacht.
Immer noch ertappte ich mich dabei, dass ich imaginäre Gespräche mit ihr führte, meistens spät in der Nacht, als eine Art Bühnengeflüster zum Sternenlosen Himmel. Ich war egoistisch genug, sie zu vermissen, doch auch vernünftig genug, zu wissen, dass wir in Wirklichkeit nie zusammen gewesen waren. Ich war voll und ganz bereit, sie zu vergessen.
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