»Müde.«
»Irgendwas Neues vom Doktor?« Sie war wegen Anämie in Behandlung. Flaschen voller Eisentabletten.
»Nein. Ich werde einfach alt, Ty. Früher oder später werden wir alle alt. Ich erwäge, in den Ruhestand zu gehen. Wenn du das, was ich tue, Arbeit nennen willst. Jetzt, wo die Zwillinge weg sind, sind ja nur noch Carol und E. D. zu versorgen, und E. D. auch kaum noch, seit die Sache in Washington angelaufen ist.«
»Hast du ihnen gesagt, dass du ans Aufhören denkst?«
»Noch nicht.«
»Es wäre nicht mehr das Große Haus ohne dich.« Sie lachte, nicht unbedingt glücklich. »Ich glaube, vom Großen Haus habe ich genug. Für ein Leben reicht es, danke sehr.« Aber sie sprach dann nie wieder von ihrem Plan. Ich glaube, es war Carol, die sie zum Bleiben überredete.
Jason kam irgendwann nachmittags zurück. »Ty?« Seine übergroßen Jeans hingen an den Hüften wie die Takelage eines in die Flaute geratenen Schiffes, und sein T-Shirt war gesprenkelt mit diversen Soßenflecken. »Hilf mir mal eben mit dem Grill, ja?«
Ich ging mit ihm nach draußen. Es handelte sich um den üblichen Propangasgrill. Jason hatte noch nie einen benutzt. Er öffnete das Ventil, drückte den Zündknopf und zuckte zusammen, als die Flammen hochzüngelten. Dann grinste er mir zu. »Wir haben Steaks. Wir haben einen Dreibohnensalat aus dem Delikatessenladen.«
»Und kaum Mücken.«
»Ja, hier wurde im Frühling gesprüht. Schon Hunger?«
Hatte ich. Irgendwie war ich beim Verdösen des Nachmittags hungrig geworden. »Grillen wir für zwei oder drei?«
»Ich warte noch immer darauf, dass ich was von Diane höre. Wahrscheinlich erfahren wir’s nicht vor heute Abend. Also nur wir beide zum Essen, denke ich.«
»Vorausgesetzt, die Chinesen schmeißen uns nicht vorher eine Bombe auf den Kopf.« Nur so als Köder.
Jason schnappte zu. »Machst du dir Sorgen wegen der Chinesen? Das ist nicht mal mehr eine Krise. Wurde beigelegt.«
»Was für eine Erleichterung.« Ich hatte von der Krise und von ihrer Beilegung an ein und demselben Tag erfahren. »Meine Mutter hat darüber gesprochen. War wohl in den Nachrichten.«
»Das chinesische Militär will die polaren Artefakte unter Beschuss nehmen. Sie haben Raketen mit atomaren Sprengköpfen startbereit auf ihren Rampen in Jiuquan stehen. Das Kalkül ist: Wenn sie die Polargeräte zerstören, dann reißen sie damit vielleicht den ganzen Oktoberschutzschirm ein. Natürlich gibt es keinen Grund zur Annahme, dass das funktioniert. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Waffen einer Technologie etwas anhaben können, die imstande ist, Zeit und Gravitation zu manipulieren?«
»Also haben wir den Chinesen gedroht und sie haben klein beigegeben?«
»Ein bisschen war’s so. Ein bisschen Peitsche, aber auch ein bisschen Zuckerbrot. Wir haben angeboten, sie mit an Bord zu nehmen.«
»An Bord?«
»Sie dürfen mitmachen bei unserem eigenen kleinen Projekt zur Rettung der Welt.«
»Jetzt machst du mir aber wirklich ein bisschen Angst, Jase.«
»Reich mir mal die Zange da. Tut mir Leid, ich weiß, das klingt geheimnisvoll. Ich darf eigentlich gar nicht über diese Dinge sprechen. Mit niemandem.«
»Aber bei mir machst du eine Ausnahme?«
»Bei dir mache ich immer eine Ausnahme.« Er lächelte. »Wir reden beim Essen drüber, ja?«
Ich ließ ihn allein am Grill, eingehüllt von Rauch und Hitze.
Zwei aufeinander folgenden amerikanischen Regierungen war von der Presse vorgeworfen worden, sie würden »nichts gegen den Spin tun«. Aber diese Kritik disqualifizierte sich selbst, denn niemand wusste, was man denn überhaupt tun könne. Und jede offen aggressive Vorgehensweise — wie die von den Chinesen vorgeschlagene — wäre völlig unkalkulierbar gewesen.
Perihelion machte sich für einen anderen Ansatz stark.
»Die Leitmetapher«, sagte Jason, »ist nicht die Schlacht. Sondern Judo. Das Gewicht und den Schwung eines größeren Gegners nutzen und gegen ihn wenden. Das ist es, was wir mit dem Spin machen wollen.«
Er erzählte mir das ganz lakonisch, während er sein Steak mit chirurgischer Präzision zerschnitt. Wir aßen in der Küche, hatten aber die Hintertür offen gelassen. Eine riesige Hummel, so fett und gelb, dass sie wie ein in der Luft schwebendes Wollknäuel aussah, prallte gegen das Fliegengitter.
»Versuch mal«, sagte er, »den Spin nicht als Überfall, sondern als Chance zu verstehen.«
»Eine Chance, um was zu tun? Vorzeitig zu sterben?«
»Eine Chance, die Zeit für unsere eigenen Zwecke zu nutzen, auf eine Weise, die vorher gar nicht denkbar gewesen wäre.«
»Ist nicht Zeit das, was sie uns weggenommen haben?«
»Im Gegenteil. Außerhalb unserer kleinen Erdblase haben wir Millionen von Jahren, mit denen wir etwas anfangen können. Und wir haben ein Werkzeug, das gerade über solche großen Zeiträume hinweg extrem verlässlich funktioniert.«
»Werkzeug?«, fragte ich verwirrt, während er einen weiteren Rindfleischwürfel aufspießte. Es war eine Mahlzeit, die sich auf das Wesentliche konzentrierte: ein Steak auf dem Teller, eine Flasche Bier daneben. Keine Beigaben, abgesehen vom Dreibohnensalat, von dem er sich eine sehr bescheidene Portion nahm.
»Ja, ein Werkzeug, ein sehr naheliegendes: Evolution.«
»Evolution?«
»Wir werden uns nicht vernünftig unterhalten können, Tyler, wenn du immer nur das wiederholst, was ich sage.«
»Okay, also, Evolution als Werkzeug… Ich verstehe aber nicht, wie wir uns in dreißig oder vierzig Jahren so weit entwickeln können, dass es irgendetwas bewirkt.«
»Nicht wir, um Gottes willen, und mit Sicherheit nicht in dreißig oder vierzig Jahren. Ich spreche von einfachen Lebensformen. Ich spreche von Äonen. Ich spreche vom Mars.«
»Mars.« Hoppla.
»Stell dich nicht so begriffsstutzig. Denk nach!«
Der Mars war ein in funktioneller Hinsicht toter Planet, auch wenn er einstmals primitive Vorformen des Lebens aufgewiesen haben mochte. Außerhalb des Spins hatte er sich seit dem Oktober-Ereignis, gewärmt von einer expandierenden Sonne, über Millionen von Jahren »entwickelt«. Den jüngsten Orbitalfotos zufolge war er immer noch ein toter, ausgetrockneter Planet. Hätte er einfaches Leben und ein entsprechend günstiges Klima besessen, wäre aus ihm, so vermutete ich, inzwischen ein üppiger grüner Urwald geworden. Aber ersteres war nicht der Fall und folglich alles andere auch nicht.
»Früher hat man hier und da über Terraformung gesprochen«, sagte Jason. »Erinnerst du dich an die spekulativen Romane, die du damals gelesen hast?«
»Ich lese sie immer noch, Jase.«
»Nur zu. Wie würdest du es anfangen, wenn du den Mars terraformen solltest?«
»Ich würde versuchen, eine ausreichend große Menge von Treibhausgasen in die Atmosphäre zu bekommen, damit er sich aufwärmt. Das ganze gefrorene Wasser entbinden. Einfachste Organismen aussäen. Aber selbst wenn man die optimistischsten Annahmen zugrunde legt, dauert das…«
Er lächelte.
»Du veräppelst mich.«
»Nein.« Das Lächeln verflog. »Überhaupt nicht. Das ist alles ganz und gar ernst gemeint.«
»Aber wie soll das…?«
»Beginnen würden wir damit, dass wir, aufeinander abgestimmt, eine Reihe von Raumfahrzeugen losschicken, die künstlich hergestellte Bakterien transportieren. Einfacher Ionenantrieb und langsames Gleiten zum Mars hin. Möglichst kontrollierter Aufprall, den die Einzeller überleben können, und ein paar größere Nutzlasten mit Sprengkopf, um die Organismen unter die Oberfläche des Planeten zu bringen, wo wir Wasservorkommen vermuten. Um auf Nummer sicher zu gehen, machen wir das mehrmals von verschiedenen Abschussstellen aus und mit einem ganzen Spektrum von in Frage kommenden Organismen. Das Ziel ist, genügend organische Tätigkeit loszutreten, um den in die Kruste eingeschlossenen Kohlenstoff zu lösen und in die Atmosphäre zu blasen. Dann alles ein paar Millionen Jahre sacken lassen — Monate in unserer Zeit —, anschließend neue Messungen machen. Ist es ein wärmerer Planet geworden mit dichterer Atmosphäre und vielleicht ein paar Teichen mit halbflüssigem Wasser, wiederholen wir den ganzen Zyklus, diesmal mit vielzelligen, für die dortige Umwelt konstruierten Pflanzen. Wodurch etwas Sauerstoff in die Luft gelangt, der den atmosphärischen Druck um ein paar Millibar nach oben schraubt. So oft wiederholen wie nötig. Weitere Millionen Jahre hinzufügen und umrühren. Und schon hast du dir in vertretbarer Zeit — so wie unsere Uhren eben die Zeit messen — einen bewohnbaren Planeten gezaubert.«
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