Ich erstarrte. Das State Department. Auweia.
»Ich könnte in ein paar Stunden da sein, falls — oh, verstehe. Okay. Nein, das ist in Ordnung. Aber haltet mich auf dem Laufenden. Genau. Danke.«
Er steckte das Telefon weg und bemerkte, dass ich da war.
»War das E. D.?«, fragte ich.
»Sein Assistent.«
»Alles in Ordnung?«
»Na komm, Tyler, soll ich dir etwa alle Geheimnisse verraten?« Er versuchte sich an einem Lächeln, nicht sehr erfolgreich. »Ich wünschte, du hättest das nicht mitgehört.«
»Ich hab nur gehört, wie du angeboten hast, nach D.C. zu kommen und mich hier mit Simon und Diane allein zu lassen.«
»Tja… werde ich vielleicht müssen. Die Chinesen stellen sich störrisch.«
»Störrisch? Was heißt das?«
»Sie weigern sich, den geplanten Raketenstart ganz abzublasen. Sie wollen sich diese Option offenhalten.«
Den nuklearen Angriff auf die Spin-Artefakte, meinte er. »Ich nehme an, irgendjemand versucht gerade, ihnen das auszureden?«
»Die Diplomatie läuft auf vollen Touren. Sie ist nur nicht gerade sehr erfolgreich. Die Verhandlungen sind offenbar festgefahren.«
»Also — na ja, Scheiße, Jase! Was bedeutet es, wenn sie tatsächlich losschlagen?«
»Es würde bedeuten, dass zwei thermonukleare Fusionswaffen in unmittelbarer Nähe zu unbekannten, mit dem Spin in Verbindung stehenden Vorrichtungen zur Detonation gebracht werden. Was die Folgen betrifft — nun, das ist eine interessante Frage. Aber noch ist es nicht passiert. Wird es wahrscheinlich auch nicht.«
»Du sprichst hier vom Weltuntergang. Oder vom Ende des Spins…«
»Nicht so laut, bitte. Wir haben Gäste, erinnerst du dich? Außerdem solltest du nicht überreagieren. Was die Chinesen beabsichtigen, ist übereilt und wahrscheinlich sinnlos, aber selbst wenn sie es in die Tat umsetzen, wird es nicht zur Selbstauslöschung kommen. Was immer die Hypothetischen sind, sie werden sich zu verteidigen wissen, ohne uns dabei zu vernichten. Außerdem sind die Polarartefakte nicht zwangsläufig die Vorrichtung, die den Spin ermöglicht. Sie könnten auch Beobachtungsplattformen sein, Kommunikationsapparate oder vielleicht sogar Lockvögel.«
»Wenn die Chinesen nun doch losschlagen, wie viel Vorwarnungszeit kriegen wir dann?«
»Kommt drauf an, wen du mit ›wir‹ meinst. Die Öffentlichkeit wird vermutlich nichts erfahren, nicht, bevor es vorbei ist.«
Das war der Moment, in dem ich begriff, dass Jason nicht einfach nur der Lehrling seines Vaters war, sondern bereits begonnen hatte, sich seine eigenen Verbindungen nach ganz oben zu schaffen. Später sollte ich viel mehr über die Perihelion-Stiftung und die Arbeit, die Jason dort machte, erfahren, vorerst aber gehörte dies alles für mich zu Jasons Schattenleben. Schon als Kind hatte er bereits ein solches Leben geführt: außerhalb des Großen Hauses war er das Mathe-Wunderkind gewesen, das die private Eliteschule so spielend leicht absolvierte wie ein Masters-Titelträger die Hindernisse eines Minigolfplatzes; zu Hause aber war er einfach Jase, und wir hatten sehr darauf geachtet, dass es so blieb.
Und es war immer noch so. Aber er warf nun einen größeren Schatten. Er verbrachte seine Tage nicht mehr damit, die Lehrer an der Rice Academy zu beeindrucken. Jetzt war er damit beschäftigt, sich in eine Position zu bringen, von der aus er Einfluss auf den Verlauf der menschlichen Geschichte nehmen konnte.
Er fügte hinzu: »Falls es passiert, dann werde ich vorgewarnt, ja. Wir werden vorgewarnt. Aber ich möchte nicht, dass Diane sich darüber Sorgen macht. Oder Simon.«
»Na toll. Dann denk ich einfach eine Weile nicht mehr daran. Ist ja nur das Ende der Welt.«
»Es ist nichts dergleichen. Bisher ist nichts passiert. Beruhige dich, Tyler. Gieß etwas zu trinken ein, wenn du dich unbedingt beschäftigen musst.«
So gelassen er sich auch gab, seine Hand zitterte doch ein bisschen, als er vier Whiskygläser aus dem Küchenschrank holte.
Ich hätte einfach abhauen können. Ich hätte aus der Tür gehen, in meinen Hyundai steigen und eine hübsche Strecke hinter mich gelegt haben können, bevor ich auch nur vermisst worden wäre. Ich stellte mir Diane und Simon vor, wie sie im Wohnzimmer ihr Hippie-Christentum praktizierten, und Jason, wie er in der Küche Weltuntergangsbulletins auf seinem Handy entgegennahm… Wollte ich wirklich meine letzte Nacht auf Erden mit diesen Leuten verbringen?
Aber mit wem denn sonst? Ganz im Ernst: Wer sonst?
»Wir haben uns in Atlanta kennen gelernt«, sagte Diane. »An der Georgia State University gab es ein Seminar über Alternative Spiritualität. Simon war da, um sich C. R. Ratels Vortrag anzuhören. Ich hab ihn dann in der Mensa gefunden. Er saß ganz für sich an einem Tisch und las in ›Wiederkunft Christi‹, und ich war auch allein, also hab ich mein Tablett ihm gegenüber gestellt und wir sind ins Gespräch gekommen.«
Diane und Simon saßen nebeneinander am Fenster, auf einem plüschig gelben, nach Staub riechenden Sofa. Diane lehnte bequem an der Seite, Simon saß aufrecht, wie sprungbereit. Sein Lächeln machte mir langsam Angst. Es ging einfach nie weg.
Wir hielten uns an unseren Getränken fest, während sich die Vorhänge im Luftzug bauschten und eine Bremse am Fliegengitter summte. Es war schwer, eine Unterhaltung zu führen, wenn es so viele Themen gab, die man nicht berühren durfte. Ich machte einen Versuch, Simons Lächeln zu kopieren. »Du bist also Student?«
»War ich«, korrigierte er.
»Und was hast du zuletzt so gemacht?«
»Bin gereist. Hauptsächlich.«
»Simon kann es sich leisten zu reisen«, sagte Jason. »Er hat geerbt.«
»Halt dich zurück.« Die Schärfe in Dianes Stimme zeigte an, dass es eine ernsthafte Warnung war. »Dieses eine Mal, Jason, ja?«
Aber Simon zuckte nur mit den Achseln. »Lass nur, es stimmt ja. Ich habe ein bisschen Geld auf die Seite gelegt. Diane und ich nutzen diese Möglichkeit, um uns das Land anzusehen.«
»Simons Großvater«, erklärte Jason, »war Augustus Townsend, der Pfeifenreinigerkönig von Georgia.«
Diane verdrehte die Augen. Simon, weiterhin die Ruhe selbst — er wirkte immer mehr wie eine Art Heiliger —, sagte: »Das ist lange her. Inzwischen sollen wir sie eigentlich gar nicht mehr Pfeifenreiniger nennen. Es sind ›Chenillestiele‹.« Er lachte. »Und hier sitze ich, Erbe eines Chenillestielvermögens.« Eigentlich sei es ein Geschenkartikelvermögen, erläuterte Diane später. Augustus Townsend hatte zwar mit Pfeifenreinigern angefangen, das große Geld aber damit verdient, dass er Pressblechspielzeug, Armbänder und Plastikkämme an Billigläden im ganzen Süden geliefert hatte. In den 1940er Jahren hatte die Familie in den gesellschaftlichen Kreisen von Atlanta eine prominente Rolle gespielt.
Jason ließ nicht locker: »Simon selbst hat dagegen keine berufliche Laufbahn eingeschlagen. Er ist ein freier Geist.«
»Ich glaube nicht, dass irgendeiner von uns ein wirklich freier Geist ist«, erwiderte Simon, »aber es ist richtig, ich strebe keine Karriere an. Vermutlich klingt das ein bisschen faul, wenn ich das sage. Nun, ich bin faul. Das ist mein hartnäckigstes Laster. Doch ich frage mich, welchen Nutzen egal welcher Beruf auf lange Sicht haben soll. Angesichts der Umstände. Nichts für ungut.« Er wandte sich mir zu. »Du machst Medizin, Tyler?«
Ich nickte. »Grad mit dem Studium fertig. Was die berufliche Laufbahn angeht…«
»Nein, ich finde das großartig. Wahrscheinlich die wertvollste Beschäftigung auf dem Planeten.«
Jason hatte Simon vorgeworfen, zu nichts nütze zu sein. Simon hatte geantwortet, dass berufliche Tätigkeit im Allgemeinen zu nichts nütze sei — ausgenommen eine Tätigkeit wie die meine. Stoß und Gegenstoß. Es war, als würde man eine in Ballettschuhen ausgetragene Kneipenschlägerei beobachten.
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