»Natürlich wäre es nicht so gewesen.«
»Ich war verwirrt.«
»Ist es das, was NK für dich ist? Rache an E. D.?«
»Nein.« Sie lächelte. »Ich liebe Simon nicht, weil er meinen Vater wütend macht. So simpel ist das Leben nicht, Ty.«
»Ich wollte damit nicht andeuten…«
»Aber du siehst, wie schwierig das ist? Ein gewisser Verdacht scheint dir naheliegend und setzt sich in deinem Kopf fest. Nein, NK hat nichts mit meinem Vater zu tun. Sondern damit, die Göttlichkeit in dem zu entdecken, was mit der Erde geschehen ist. Und diese Göttlichkeit im täglichen Leben auszudrücken.«
»Vielleicht ist der Spin auch nicht so simpel.«
»Wir werden entweder ermordet oder verwandelt, sagt Simon.«
»Er hat mir erzählt, ihr errichtet den Himmel auf Erden.«
»Ist es nicht das, was den Christen aufgegeben ist? Das Königreich Gottes schaffen, indem sie ihm in ihrem Leben Ausdruck verleihen?«
»Oder jedenfalls dazu tanzen.«
»Jetzt klingst du wie Jason. Klar, ich kann nicht alles an der Bewegung gutheißen. Letzte Woche waren wir auf einem Konklave in Philadelphia und haben dort ein anderes Paar kennen gelernt, in unserem Alter, freundlich, intelligent — lebendig im Geist, nannte Simon sie. Wir sind zusammen essen gegangen und haben über die Parusie gesprochen. Dann haben sie uns in ihr Hotelzimmer eingeladen und plötzlich fingen sie an, Kokslinien auf den Tisch zu streuen und Pornovideos abzuspielen. Es werden auch alle möglichen Randgruppen von NK angezogen, keine Frage. Und für die meisten von ihnen existiert die Theologie kaum, außer als verschwommenes Bild vom Garten Eden. Aber in ihren besten Ausprägungen ist die Bewegung all das, was sie zu sein beansprucht — ein echter, lebendiger Glaube.«
»Glaube woran? Ekstasis? Promiskuität?«
Ich bedauerte meine Worte in dem Moment, als ich sie ausgesprochen hatte. Diane schien verletzt. »Ekstasis bedeutet nicht Promiskuität. Jedenfalls nicht, wenn sie gelingt. Aber im Leib Gottes ist keine Handlung verboten, solange sie nicht der Rachsucht oder der Wut entspringt, solange sie sowohl göttliche als auch menschliche Liebe ausdrückt.«
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Ich muss etwas schuldbewusst dreingeblickt haben. Diane sah mein Gesicht und lachte.
Jasons erste Worte, als ich abnahm: »Ich habe gesagt, es würde eine Vorwarnung geben. Tut mir Leid. Ich hatte Unrecht.«
»Was?«
»Hast du den Himmel nicht gesehen, Tyler?«
Also gingen wir nach oben, um uns ein Fenster zu suchen, von dem aus man den Sonnenuntergang sehen konnte.
Das Schlafzimmer nach Westen war großzügig geschnitten, mit einer Mahagoni-Chiffoniere, einem Bett mit Messinggeländer und großen Fenstern. Ich zog die Vorhänge auf. Diane stockte der Atem.
Da war keine untergehende Sonne. Oder, besser gesagt, da waren gleich mehrere.
Der gesamte westliche Himmel war erleuchtet. Statt einer einzelnen Sonnenkugel war ein rötlich schimmernder Bogen zu sehen, der sich über mindestens fünfzehn Grad des Horizonts erstreckte, und was in ihm enthalten war, das sah aus wie eine flackernde Vielfachbelichtung von einem Dutzend oder mehr Sonnenuntergängen. Das Licht war erratisch, es loderte auf und verblasste wie ein fernes Feuer.
Endlos lange starrten wir hin. Schließlich sagte Diane: »Was ist das, Tyler? Was geschieht da?«
Ich erzählte ihr von den chinesischen Atomsprengköpfen.
»Jason wusste, dass das passieren könnte?«, fragte sie, gab sich dann aber gleich selbst die Antwort. »Natürlich.« Das seltsame Licht verlieh dem Zimmer einen rosenfarbenen Anstrich und legte sich über ihre Wangen wie ein Fieber. »Wird es uns umbringen?«
»Jason glaubt es nicht. Es wird den Leuten allerdings eine Heidenangst einjagen.«
»Aber ist es gefährlich? Strahlung oder irgendwas?«
Ich bezweifelte es. Aber ausschließen konnte man es natürlich nicht. »Probier doch mal das Fernsehen«, sagte ich. In jedem Schlafzimmer gab es einen in die Walnusstäfelung eingelassenen Plasmabildschirm. Ich nahm an, dass jede auch nur annähernd tödliche Strahlung die Übertragung von Funkwellen verhindern würde.
Aber das Fernsehen funktionierte gut genug, um uns Nachrichtenbilder von Menschenmassen zu zeigen, die in den Städten Europas zusammenströmten (wo es bereits dunkel war, jedenfalls so dunkel, wie es in dieser Nacht werden würde). Keine tödliche Strahlung, aber jede Menge Panik. Diane saß regungslos auf der Bettkante, die Hände im Schoß gefaltet, sichtlich verängstigt. Ich setzte mich neben sie und sagte: »Wenn das wirklich irgendwie tödlich wäre, würden wir jetzt schon nicht mehr leben.«
Draußen stolperte der Sonnenuntergang der Dunkelheit entgegen. Das diffuse Leuchten löste sich in mehrere klar geschiedene Sonnen auf, alle geisterblass, und dann plötzlich in eine Spirale von Sonnenlicht, wie eine strahlende Feder, die sich über den ganzen Himmel bog und ebenso jäh wieder verschwand.
Wir saßen Hüfte an Hüfte, während der Himmel sich verdunkelte.
Dann traten die Sterne hervor.
Es gelang mir, Jason noch einmal zu erreichen, bevor Netze zusammenbrachen. Simon hatte gerade die Zündkerzen für sein Auto bezahlt, erzählte er, als der Himmel explodierte. Die Straßen aus Stockbridge heraus waren bereits verstopft, das Radio berichtete von vereinzelten Plündereien in Boston und zum Erliegen kommendem Verkehr auf allen Hauptstraßen, daher war Jason auf den Parkplatz eines Motels gefahren und hatte für die Nacht ein Zimmer für sich und Simon gemietet. Am nächsten Morgen, sagte er, werde er wahrscheinlich nach Washington müssen, aber vorher werde er Simon noch beim Haus absetzen.
Dann gab er sein Telefon an Simon weiter und ich meins an Diane. Ich verließ das Zimmer, während sie mit ihrem Verlobten sprach. Das Haus schien bedrohlich groß und leer. Ich wanderte herum und machte überall Licht an, bis sie mich rief.
»Noch einen Drink?«, fragte ich.
»O ja.«
Kurz nach Mitternacht gingen wir nach draußen.
Diane ließ sich nichts anmerken. Simon hatte sie mit New-Kingdom-Weisheiten aufgebaut. In der NK-Theologie gab es keine konventionelle Wiederkunft Christi, keine Entrückung, kein Armageddon — der Spin war all dies zusammengenommen, die indirekte Erfüllung der alten Prophezeiungen. Und wenn Gott die Leinwand des Himmels benutzt, um uns die nackte Geometrie der Zeit aufzumalen, so Simon, dann tut er das eben und all unsere Furcht — unsere Ehrfurcht — ist dem Vorgang vollkommen angemessen. Doch sollten wir uns von diesen Gefühlen nicht überwältigen lassen, denn der Spin ist letzten Endes ein Akt der Erlösung, das letzte und beste Kapitel der menschlichen Geschichte.
Oder so etwas in der Art.
Wir gingen also nach draußen, um den Himmel zu beobachten, weil Diane das für eine mutige und spirituelle Handlung hielt. Der Himmel war wolkenlos, und die Luft roch nach Kiefern. Der Highway war weit weg, doch hin und wieder hörten wir leise Autohupen und Sirenen.
Unsere Schatten tanzten um uns herum, je nachdem, welcher Teil des Himmels aufleuchtete, mal im Norden, mal im Süden. Wir saßen auf dem Rasen, einige Meter vom Schein der Verandalampen entfernt, Diane lehnte sich gegen meine Schulter, und ich legte den Arm um sie. Wir waren beide ein bisschen betrunken.
Trotz all der Jahre emotionaler Kälte, trotz unserer Vergangenheit im Großen Haus, trotz ihrer Verlobung mit Simon Townsend, trotz NK und Ekstasis und sogar trotz der atomaren Verunstaltung des Himmels war ich hochempfänglich für das Gefühl, das der Druck ihres Körpers neben mir auslöste. Und das Seltsame war, dass sich alles vollkommen vertraut anfühlte, die Rundung ihres Arms unter meiner Hand, das Gewicht ihres Kopfes an meiner Schulter, ja selbst der Geruch ihrer Furcht: nicht neu entdeckt, sondern erinnert. Sie fühlte sich genauso an, wie sie sich schon immer in meiner Vorstellung angefühlt hatte.
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