»Na, das muss einen nicht unbedingt überraschen.«
»Sie ist mehr oder weniger verlobt. Will heiraten.«
Ich trug’s halbwegs mit Fassung. »Tja, schön für sie.« Welchen Grund hätte ich gehabt, eifersüchtig zu sein? Ich hatte keine Beziehung mehr zu Diane — hatte nie eine gehabt, jedenfalls nicht in der engeren Bedeutung des Wortes. Und ich war einmal fast selbst verlobt gewesen, in Stony Brook im zweiten Jahr, mit einer Studentin namens Candice Boone. Es hatte uns Spaß gemacht, einander »Ich liebe dich« zu sagen, bis wir dessen irgendwann überdrüssig wurden. Ich glaube, bei Candice begann der Überdruss zuerst.
Und dennoch: mehr oder weniger verlobt? Wie ging das denn?
Ich war versucht zu fragen, aber Jason fühlte sich sichtlich nicht wohl mit der Wendung, die unser Gespräch genommen hatte. Eine weitere Erinnerung stellte sich ein: Einmal, noch im Großen Haus, hatte Jason eine Freundin mit nach Hause gebracht, um sie seiner Familie vorzustellen. Er hatte sie im Schachklub von Rice kennen gelernt, ein einfaches, aber nettes Mädchen, zu schüchtern, um viel zu sagen. Carol war an jenem Abend relativ nüchtern, aber E. D. war mit dem Mädchen sichtlich nicht einverstanden, behandelte sie demonstrativ unfreundlich, und als sie gegangen war, scholt er Jason dafür, »so ein Exemplar ins Haus zu schleppen«. Mit einem großen Verstand, so E. D., sei eine entsprechende Verantwortung verbunden. Er wolle nicht, dass Jason in eine konventionelle Ehe gelockt würde, wolle nicht mit ansehen müssen, wie er »Windeln an die Wäscheleine« hänge, anstatt sich »in der Welt einen Namen zu machen«.
Die meisten an Jasons Stelle hätten wohl aufgehört, ihre Freundinnen mit nach Hause zu bringen.
Jason aber hatte einfach aufgehört, Freundinnen zu haben.
Das Haus war leer, als ich am nächsten Morgen aufwachte.
Auf dem Küchentisch lag eine Nachricht: Jason war losgefahren, um Vorräte fürs Grillen zu besorgen. Bin mittags zurück oder auch später. Jetzt war es halb zehn. Ich hatte luxuriös lange geschlafen, schon überkam mich Sommerferienträgheit.
Das Haus schien sie zu befördern. Die Stürme der letzten Nacht waren weitergezogen, eine angenehme Morgenbrise wehte durch die Kattunvorhänge, das Sonnenlicht legte Unregelmäßigkeiten in der Maserung der Arbeitsplatte in der Küche bloß. Ich frühstückte gemütlich am Fenster und beobachtete die Wolken, die wie stattliche Schoner über den Horizont segelten.
Kurz nach zehn klingelte es an der Tür, und ich bekam kurz Panik bei dem Gedanken, dass es Diane sein könnte. Hatte sie spontan beschlossen, ein bisschen früher zu kommen? Nein, es war »Mike, der Gartenmann« mit Halstuch und ärmellosem T-Shirt, der mir Bescheid geben wollte, dass er jetzt den Rasen mähen werde — er wolle niemanden aufwecken, aber der Mäher sei ziemlich laut; er könne aber auch am Nachmittag wiederkommen, falls das ein Problem sei. Überhaupt kein Problem, sagte ich, und ein paar Minuten später fuhr er die Konturen des Grundstücks mit einem uralten grünen John Deere ab, der die Luft mit brennendem Öl einfettete. Immer noch ein wenig schläfrig, fragte ich mich, wie diese Gartenarbeit sich wohl im Angesicht dessen ausnehmen würde, was Jason gerne als das »Universum im Ganzen« bezeichnete. Für das Universum im Ganzen war die Erde ein Planet kurz vor dem Stillstand. Die Grashalme dort draußen im Garten waren über Jahrhunderte gewachsen, in ihrer Bewegung ebenso majestätisch gemessen wie die Evolution der Sterne. Mike, eine vor einigen Milliarden Jahren geborene Naturgewalt, mähte sie mit unendlicher Geduld. Die abgetrennten Halme fielen, von der Schwerkraft leicht angehaucht, über viele, viele Jahre hinweg zwischen Sonne und Lehmboden, einem Boden, in dem Methusalemwürmer wühlten, während anderswo in der Galaxis womöglich ganze Reiche aufstiegen und wieder vergingen.
Jason hatte natürlich Recht: Es war schwer, an so etwas zu glauben. Oder nein, nicht daran »zu glauben« — die Menschen glauben ja an alles mögliche unplausible Zeug —, sondern es als grundlegende Wahrheit über die Welt zu akzeptieren. Ich saß auf der Veranda, an der von dem dröhnenden Deere abgewandten Seite des Hauses, die Luft war kühl, und die Sonne, als ich ihr mein Gesicht zukehrte, fühlte sich gut an, obwohl ich wusste, was es war — gefilterte Strahlung für eine Welt im Spin, eine Welt, in der Jahrhunderte verjubelt wurden, als sei’s nur eine Sekunde.
Kann nicht wahr sein. Ist aber wahr.
Ich dachte wieder an mein Studium, an das Anatomieseminar, von dem ich Jason erzählt hatte. Candice Boone, meine Beinahe-Verlobte, hatte mit mir diesen Kurs besucht. Während des Sezierens hatte sie sich gelassen gezeigt, doch hinterher nicht mehr. Ein menschlicher Körper, sagte sie, sollte Liebe enthalten, Hass, Mut, Feigheit, Seele, Geist — nicht diese schleimige Ansammlung von blauen und roten Imponderabilien. Ja. Und wir sollten nicht gegen unseren Willen in eine tödliche Zukunft gezerrt werden.
Aber die Welt ist, wie sie ist, und sie lässt nicht mit sich verhandeln. Etwas in der Art sagte ich zu Candice.
Sie erklärte, ich sei »kalt«. Mag sein, aber ich glaube, ich war mit dieser Bemerkung dem, was man als Weisheit bezeichnen könnte, näher gekommen als je zuvor.
Der Morgen schritt voran. Mike war mit dem Rasen fertig und fuhr wieder weg, hinterließ eine von feuchter Stille erfüllte Luft. Nach einer Weile raffte ich mich auf und rief meine Mutter in Virginia an, wo das Wetter, wie sie sagte, weniger einladend als in Massachusetts war, noch immer bewölkt nach einem Sturm in der Nacht, der einige Bäume und Strommasten gefällt hatte. Ich berichtete, dass ich sicher in E. D.s Sommerhaus angekommen sei. Sie fragte, was Jason für einen Eindruck mache, obwohl sie ihn vermutlich vor nicht allzu langer Zeit selbst gesehen hatte, während einem seiner Besuche im Großen Haus. »Älter«, erwiderte ich. »Aber immer noch Jase.«
»Macht er sich Sorgen wegen dieser China-Sache?« Meine Mutter war seit dem Oktober-Ereignis zum Nachrichtenjunkie geworden, hatte ständig CNN laufen, nicht aus Vergnügen, ja nicht mal wegen eines Bedürfnisses nach Information, sondern in erster Linie zur Beruhigung, zur Rückversicherung, so wie ein mexikanischer Dorfbewohner ständig ein Auge auf den nahen Vulkan haben mag, in der Hoffnung, dass der noch nicht angefangen hat zu rauchen. Die China-Sache sei im gegenwärtigen Stadium nur eine diplomatische Krise, sagte sie, obwohl einige Säbel schon sanft rasselten. Es ging um irgendeinen strittigen Satellitenstart, den die Chinesen planten. »Du solltest Jason danach fragen.«
»Hat E. D. dir mit diesem Zeug Angst gemacht?« »Nein. Hin und wieder höre ich einiges von Carol.«
»Ich weiß nicht, wie weit du dem trauen solltest.«
»Ach komm, Ty. Sie trinkt, aber sie ist nicht blöd. Ich übrigens auch nicht, jedenfalls nicht sehr.«
»Das wollte ich damit überhaupt nicht sagen.«
»Das meiste, was ich dieser Tage über Jason und Diane höre, kommt von Carol.«
»Hat sie gesagt, ob Diane in die Berkshires kommt? Von Jason kriege ich keine richtige Antwort.«
Meine Mutter zögerte. »Diane ist in den letzten Jahren ein bisschen unberechenbar gewesen. Daran liegt es vermutlich.«
»Was genau bedeutet unberechenbar?«
»Ach, na ja. Keine großen Erfolge am College. Ein paar Probleme mit dem Gesetz…«
»Mit dem Gesetz?«
»Ich meine, sie hat keine Bank ausgeraubt oder so, aber sie ist ein paarmal festgenommen worden, wenn NK-Versammlungen außer Kontrolle geraten sind.«
»Was zum Teufel hat sie bei NK-Versammlungen gemacht?«
Erneute Pause. »Du solltest wirklich Jason danach fragen.«
Die Absicht hatte ich.
Sie hustete — ich stellte sie mir vor, mit einer Hand über dem Telefon, den Kopf diskret zur Seite gedreht —, und ich fragte: »Wie fühlst du dich?«
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