Noch sieht E. D. den Zusammenhang zwischen meiner Genesung von der AMS und Wuns Pharmazeutika nicht, oder er behält seine Erkenntnis für sich. Jedenfalls möchte ich das glauben. Denn sollte ich in die Hände der Sicherheitsdienste fallen, würden sie als Erstes eine Blutanalyse durchführen und mich dann zu einem wissenschafllichen Studienobjekt machen, vermutlich in Wuns alter Zelle auf Plum Island. Und ich glaube nicht, dass E. D. es dazu wirklich kommen lassen will. So sehr er es mir auch verübeln mag, dass ich ihm Perihelion »gestohlen« und mit Wun Ngo Wen gemeinsame Sache gemacht habe — er ist immer noch mein Vater.
Aber keine Sorge. Auch wenn E. D. wieder mitmischt im Weißen Haus — ich habe ebenfalls Verbündete. Keine mit großer Macht ausgestatteten Menschen — wenn auch einige von ihnen durchaus so manches Gewicht auf die Waagschale werfen können —, sondern intelligente, anständige Leute, die gewillt sind, das Schicksal der Menschheit in einem etwas weiteren Rahmen zu begreifen. Dank ihrer wurde ich rechtzeitig vor dem Zugriff auf Perihelion gewarnt. Ich bin den Häschern durch die Finger geschlüpft. Jetzt bin auf der Flucht.
Du, Tyler, stehst lediglich unter dem Verdacht der Beihilfe — obwohl auch du in die gleiche Situation geraten könntest wie ich. Es tut mir Leid. Ich weiß, ich trage Verantwortung dafür, dass du dich in dieser Lage befindest. Eines Tages werde ich dich persönlich um Verzeihung bitten. Vorläufig aber kann ich nicht mehr anbieten als einen guten Rat.
Die Datenträger, die ich dir bei deinem Abschied von Perihelion übergeben habe, enthalten streng geheime Auszüge aus Wun Ngo Wens Archiven. Kann sein, dass du sie verbrannt, vergraben oder in den Pazifik geworfen hast. Egal. Lange Jahre in der Raumfahrtplanung haben mich die Vorzüge der Redundanz gelehrt. Ich habe Wuns Informationen an Dutzende von Personen in diesem Land und in aller Welt versandt. Noch ist davon nichts ins Internet gestellt worden — so verantwortungslos ist keiner —, aber sie kursieren. Dies ist ohne Zweifel eine zutiefst unpatriotische, kriminelle Handlung. Falls ich gefasst werde, wird man mich wegen Hochverrat anklagen.
Ich bin aber nicht der Auffassung, dass Informationen dieser Art (sie enthalten etwa Beschreibungen menschlicher Modifikationen, die unter anderem —, und ich sollte es wissen — schwere Krankheiten heilen können) unter Verschluss gehalten werden sollten, selbst wenn ihre Freigabe Probleme aufwirft. Lomax und sein handzahmer Kongress sind da anderer Meinung. Also verbreite ich die letzten Fragmente der Archive und mache mich aus dem Staub. Tauche unter. Du wirst vielleicht das Gleiche tun wollen. Vielleicht wirst du es sogar müssen. Jeder, der zur alten Perihelion-Truppe gehörte, jeder, der mir nahe stand, kann sich früher oder später des besonderen Interesses der Bundesbehörden sicher sein.
Oder du willst — im Gegenteil — bei der nächsten FBI-Dienststelle vorsprechen und den Inhalt dieses Umschlags übergeben. Falls du das für das Beste, für das Richtige, hältst, folge deinem Gewissen — ich nehme es dir nicht übel, will allerdings auch nicht für das Ergebnis garantieren. Meine Erfahrungen mit der Regierung Lomax legen die Vermutung nahe, dass die Wahrheit in diesem Fall eher nicht befreiend sein wird.
Wie auch immer, ich bedaure, dich in diese schwierige Lage gebracht zu haben. Es ist nicht fair. Es ist zu viel verlangt von einem Freund, und ich war stets stolz darauf, dich meinen Freund nennen zu dürfen.
Vielleicht hatte E. D. in einem Punkt Recht: Unsere Generation hat sich dreißig Jahre lang abgemüht, das wiederzuerlangen, was der Spin uns in jener Oktobernacht gestohlen hat. Aber es gelingt uns nicht. Es gibt in diesem Universum nichts, an dem wir uns festhalten können, und es nützt auch nichts, es dennoch zu versuchen. Wenn ich eines gelernt habe aus meiner »Viertheit«, dann das. Wir sind so vergänglich wie Regentropfen. Wir fallen alle, und ein jeder landet irgendwo.
Fall du, wie du magst, Tyler. Mach von den beigefügten Dokumenten Gebrauch, wenn es erforderlich ist. Sie waren teuer, aber sie sind absolut verlässlich. (Es ist gut, Freunde in hohen Ämtern zu haben!)
Bei den »beigefügten Dokumenten« handelte es sich im Wesentlichen um eine Garnitur von Ersatzidentitäten: Pässe, ID-Karten des Heimatschutzministeriums, Sozialversicherungsnummern, sogar medizinische Diplome, alle mit meiner Personenbeschreibung, keines davon mit meinem richtigen Namen.
Dianes Gesundung schritt weiter voran. Der Puls stabilisierte sich, die Lunge wurde frei, nur das Fieber hielt sich noch. Das marsianische Medikament verrichtete sein Werk, regenerierte ihren Körper bis ins kleinste Detail, bearbeitete und verbesserte ihn auf subtilste Weise.
Und sie begann Fragen zu stellen — über die Sonne, über Pastor Dan, über die Reise von Arizona zum Großen Haus. Wegen der Fieberschübe blieben die Antworten, die ich ihr gab, nicht immer haften. Mehr als einmal fragte sie mich, was mit Simon sei. In klaren Momenten erzählte ich ihr von dem roten Kalb und der Rückkehr der Sterne; wenn sie groggy war, sagte ich nur, dass Simon »woanders« sei und ich mich noch eine Weile um sie kümmern würde. Keine dieser Antworten — weder die wahren noch die halb wahren — schienen sie zu befriedigen.
An manchen Tagen war sie völlig teilnahmslos, saß mit dem Gesicht zum Fenster, sah zu, wie das Sonnenlicht über die Berge und Täler der Bettdecke strich. An anderen ergriff sie eine fiebrige Unruhe. Eines Nachmittags verlangte sie Papier und Kugelschreiber — doch als ich ihr das Gewünschte brachte, schrieb sie nur einen einzigen Satz: Bin ich nicht meines Bruders Hüterin, den allerdings immer wieder, bis sie einen Krampf in den Fingern bekam.
»Ich hab ihr von Jason erzählt«, gestand Carol, als ich ihr das vollgeschriebene Blatt zeigte.
»Sind Sie sicher, dass das klug war?«
»Früher oder später musste sie es erfahren. Sie wird darüber hinwegkommen, Tyler. Keine Sorge. Diane wird damit fertig. Diane war schon immer stark.«
Am Morgen des Tages von Jasons Beerdigung machte ich die Umschläge fertig und warf sie auf dem Weg in die örtliche Kapelle, die Carol für die Trauerfeier reserviert hatte, in einen aufs Geratewohl ausgesuchten Briefkasten. Die Päckchen mit der Aufnahme seiner »letzten Worte« würden vielleicht ein paar Tage auf Beförderung warten müssen — der Postbetrieb kam erst allmählich wieder in Gang —, doch nach meiner Einschätzung waren sie dort sicherer als im Großen Haus.
Die »Kapelle« war ein konfessionsfreies Bestattungsinstitut an einer der Ausfallsstraßen, auf der es recht lebhaft zuging, seit die Reisebeschränkungen aufgehoben waren. Zwar hatte Jason für aufwändige Beerdigungen immer nur die Geringschätzung des Rationalisten übrig gehabt, aber Carols Auffassung von Würde verlangte nach einer Zeremonie, selbst wenn sie nur bescheiden, pro forma war. Es war ihr gelungen, eine kleine Trauergemeinde zusammenzutrommeln, größtenteils langjährige Nachbarn, die Jason als Kind gekannt und seine Karriere bruchstückhaft im Fernsehen und in der Zeitung verfolgt hatten. Es war sein verblassender Prominentenstatus, der die Bankreihen füllte.
Ich hielt eine kurze Rede (Diane hätte es natürlich besser gemacht, aber sie war noch zu krank, um teilzunehmen). Jase, sagte ich, habe sein Leben dem Streben nach Erkenntnis verschrieben, nicht hochmütig, sondern in Demut — es sei seine tiefe Überzeugung gewesen, dass Wissen nicht geschaffen, sondern entdeckt werde; es könne nicht Eigentum sein, sondern müsse weitergegeben werden, von Hand zu Hand, von Generation zu Generation. Jason habe sich in den Prozess dieser Weitergabe eingegliedert und nach wie vor sei er Teil davon, auch nach seinem Tod lebe er fort im großen Netzwerk des Wissens.
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