Diane lehnte ihren Kopf gegen meine Schulter. »Ich wünschte, Jason hätte das hier sehen können.«
»Ich glaube, er hat es gesehen. Nur nicht aus dieser Perspektive.«
Im Großen Haus stellten sich nach Jasons Tod drei Probleme.
Das dringlichste betraf Diane, deren körperlicher Zustand noch Tage nach der Verabreichung der marsianischen Substanz unverändert blieb. Sie schwebte am Rande des Komas und wurde periodisch von heftigem Fieber ergriffen, Phasen, in denen ihr der Puls am Hals schlug wie ein flatternder Insektenflügel. Wir hatten kaum etwas da, um sie zu versorgen, und ich hatte Mühe, sie dazu zu bewegen, wenigstens hin und wieder einen Schluck Wasser zu trinken Der einzige echte Fortschritt war das Atemgeräusch, das entspannter und weniger schleimhaltig klang — wenigstens ihre Lunge befand sich also auf dem Weg der Besserung.
Das zweite Problem teilten wir mit vielen anderen Familien im ganzen Land: einer von uns war gestorben und musste beerdigt werden. Eine Welle des Todes — Unfall, Selbstmord, Mord — war in den letzten Tagen über die Welt hinweggespült, und kein Land der Erde war darauf vorbereitet, mit den Folgen umzugehen, außer auf die denkbar grobschlächtigste Art und Weise: Im Radio wurden Sammelstellen für Massenbegräbnisse bekannt gegeben; Kühlfahrzeuge von Fleischfabriken waren requiriert worden; es gab auch eine Nummer, die man anrufen konnte, jetzt wo das Netz wieder funktionsfähig war — jedoch Carol wollte von all dem nichts hören. Als ich das Thema anschnitt, fuhr sie empört auf: »Das werde ich nicht tun, Tyler. Ich lasse nicht zu, dass Jason in eine Grube geworfen wird wie die Armen im Mittelalter.«
»Aber wir können ihn nicht…«
»Still. Ich habe immer noch den einen oder anderen Kontakt von früher. Lass mich ein paar Anrufe machen.«
Sie war mal eine angesehene Fachärztin gewesen und musste in den Zeiten vor dem Spin über ein großes Netzwerk von Kontakten verfügt haben, doch nach dreißig Jahren alkoholseliger Abgeschiedenheit — wen konnte sie da noch kennen? Trotzdem verbrachte sie einen ganzen Vormittag am Telefon, machte geänderte Nummern ausfindig, stellte sich neu vor, erklärte, lockte, bat inständig. Für mich klang das alles hoffnungslos. Aber fünf Stunden später fuhr ein Leichenwagen die Auffahrt hinauf, zwei erschöpfte, doch unbeirrbar freundliche und kompetente Männer kamen herein, legten Jasons Leichnam auf eine Rollbahre und beförderten ihn — zum letzten Mal — aus dem Großen Haus.
Den Rest des Tages saß Carol im Obergeschoss, hielt Dianes Hand und sang Lieder, die diese nicht hören konnte. Am Abend dann genehmigte sie sich den ersten Drink seit dem Morgen, an dem die rote Sonne aufgegangen war — eine »Instandhaltungsdosis«, so nannte sie es.
Unser drittes Problem war E. D. Lawton.
E. D. musste darüber informiert werden, dass sein Sohn gestorben war, und Carol wappnete sich dafür, auch dieser Pflicht Genüge zu tun. Sie gestand, dass sie seit einigen Jahren nur noch über Anwälte mit E. D. gesprochen und er ihr immer Angst gemacht habe, jedenfalls wenn sie nüchtern war: Er war groß, herausfordernd, einschüchternd — Carol war zart, ausweichend, schüchtern. Ihre Trauer jedoch hatte die Gewichte ein wenig verschoben.
Es dauerte Stunden, doch irgendwann gelang es ihr, ihn zu erreichen — er war in Washington, eine kurze Autofahrt entfernt — und ins Bild zu setzen. Über die Todesursache äußerte sie sich nur vage, sie erzählte ihm, Jason sei mit einer Lungenentzündung nach Hause gekommen und sein Zustand habe sich dramatisch verschlechtert, kurz nachdem der Strom ausgefallen und die Welt aus den Fugen geraten war — kein Telefon, kein Notfalldienst, keine Hoffnung.
Ich fragte sie, wie E. D. die Nachricht aufgenommen habe.
Sie zuckte mit den Achseln. »Zuerst hat er gar nichts gesagt, Schweigen ist E. D.s Art, Schmerz auszudrücken. Sein Sohn ist gestorben. Das mag ihn nicht unbedingt überrascht haben, angesichts dessen, was in den letzten Tagen geschehen ist, aber es hat ihm wehgetan — ich glaube, es hat ihm unsagbar wehgetan.«
»Haben Sie ihm gesagt, dass Diane hier ist?«
»Ich hielt es für klüger, es nicht zu tun.« Sie sah mich an. »Ich habe ihm auch nicht gesagt, dass du hier bist. Ich weiß, dass Jason und E. D. Streit hatten. Jason ist nach Hause gekommen, um vor irgendetwas zu fliehen, was bei Perihelion vorging, etwas, das ihm Angst gemacht hat. Und ich nehme an, dass es etwas mit dem marsianischen Medikament zu tun hat. Nein, Tyler, du brauchst es mir nicht zu erklären — ich will es nicht hören, würde es vermutlich auch gar nicht verstehen. Aber ich dachte, es wäre besser, wenn E. D. hier nicht ins Haus einfallen und versuchen würde, die Kontrolle zu übernehmen.«
»Er hat sich nicht nach ihr erkundigt?«
»Nein, nicht nach Diane. Eines allerdings war merkwürdig: Er hat mich gebeten, dafür zu sorgen, dass Jason… dass Jasons Leichnam konserviert wird. Er hat eine Menge Fragen dazu gestellt. Ich habe ihm gesagt, ich hätte Vorbereitungen getroffen, es werde eine Beerdigung geben und ich würde ihn verständigen. Aber dabei wollte er es nicht belassen. Er will, dass eine Autopsie vorgenommen wird. Ich habe mich stur gestellt. Warum sollte er eine Autopsie wollen, Tyler?«
»Ich weiß es nicht.«
Aber ich machte mich daran, es herauszufinden. Ich ging in Jasons Zimmer, wo inzwischen die Laken von seinem Bett gezogen worden waren. Ich öffnete das Fenster, setzte mich in den Sessel neben der Kommode und sah mir an, was er hinterlassen hatte.
Jason hatte mich gebeten, seine Erkenntnisse über die Natur der Hypothetischen und ihre Manipulation der Erde aufzuzeichnen, jeweils eine Kopie dieser Aufzeichnung in etwa ein Dutzend wattierte, bereits adressierte und frankierte Umschläge zu stecken und diese zu verschicken, sobald die Post ihren Dienst wieder aufgenommen hatte. Zweifellos hatte er, als er wenige Tage vor Ende des Spins im Großen Haus eintraf, nicht damit gerechnet, einen solch atemberaubenden Monolog zu produzieren. Irgendetwas anderes hatte ihn verfolgt.
Ich ging die Umschläge durch. Sie waren, in Jasons Handschrift, an Personen adressiert, deren Namen ich nicht kannte. Nein, den Namen auf einem der Umschläge erkannte ich. Es war mein Name.
Lieber Tyler,
ich weiß, ich habe dir in der Vergangenheit manch unzumutbare Last auferlegt. Und nun bin ich, wie ich fürchte, im Begriff, dir eine weitere aufzuerlegen — und diesmal steht erheblich mehr auf dem Spiel. Es tut mir Leid, falls dies allzu abrupt wirkt, aber ich bin in Eile, aus Gründen, die sich dir bald erschließen werden.
Die jüngsten Himmelserscheinungen, die die Medien als » Flackern« bezeichnen, haben bei der Regierung Lomax die Alarmglocken läuten lassen. Das Gleiche gilt für einige andere Ereignisse, die weniger öffentliche Aufmerksamkeit erregt haben. Nur ein Beispiel: Nach dem Tod von Wun Ngo Wen sind Gewebeproben seiner Organe im Zentrum für Tierkrankheiten auf Plum Island untersucht worden, derselben Einrichtung, in der er nach seiner Ankunft auf der Erde in Quarantäne gehalten wurde. So subtil die marsianische Biotechnologie sein mag — die moderne Forensik ist hartnäckig. Dabei ist deutlich geworden, dass Wuns Physiologie, insbesondere sein Nervensystem, auf weitaus radikalere Weise verändert worden war, als die in seinen Archiven beschriebene Prozedur des »Vierten Alters« vorsieht. Aus diesem und anderen Gründen haben Lomax und seine Leute E. D. aus seinem unfreiwilligen Ruhestand geholt und sind jetzt geneigt, seinen Vermutungen über Wuns Motive Gehör zu schenken. E. D. hat die Gelegenheit genutzt, neuen Anspruch auf Perihelion zu erheben, und er verliert keine Zeit, um aus der Paranoia im Weißen Haus Kapital zu schlagen.
Für welches Vorgehen hat sich die Administration entschieden? Für das plumpe. Lomax (oder sein Beraterstab) hat den Plan gefasst, eine Razzia bei Perihelion durchzuführen und alles zu beschlagnahmen, was uns aus Wuns Besitz zur Verfügung stand, ebenso wie unsere sämtlichen Aufzeichnungen und Arbeitsnotizen.
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