»Und den Haushalt zu führen.«
»Das war E. D.s Idee. Ich wollte sie einfach nur in der Nähe haben. Meine Ehe war nicht so erfolgreich, wie ihre es gewesen war. Eher das Gegenteil. Und sie war mehr oder weniger die einzige Freundin, die ich hatte. Die Einzige, der ich alles anvertrauen konnte. Fast alles.«
»Deswegen wollen Sie die Briefe behalten? Weil sie Teil Ihrer gemeinsamen Geschichte sind?«
Carol lächelte wie zu einem Kind, das etwas schwer von Begriff ist. »Nein, Tyler. Ich hab’s doch gesagt — es sind meine Briefe.« Sie zwinkerte. »Nun schau nicht so fassungslos. Deine Mutter war so heterosexuell, wie eine Frau nur sein kann. Ich hatte einfach das Pech, mich in sie zu verlieben. Mich so verzweifelt in sie zu verlieben, dass ich bereit war, alles zu tun — sogar einen Mann zu heiraten, der einen etwas widerlichen Eindruck machte, schon damals —, nur um in ihrer Nähe zu bleiben. Die ganze Zeit über, Tyler, in all den Jahren, habe ich ihr nie etwas von meinen Gefühlen verraten. Nie, außer in diesen Briefen. Ich habe mich gefreut, dass sie sie aufbewahrte, auch wenn sie mir immer ein wenig gefährlich vorkamen, wie etwas Explosives oder Radioaktives, ein Zeugnis meiner Narrheit. Als deine Mutter starb — ich meine, genau an dem Tag, als sie starb —, habe ich Panik gekriegt. Ich versteckte die Schachtel. Ich dachte daran, die Briefe zu zerstören, aber ich konnte es nicht, hab’s nicht fertig gebracht. Und dann, als E. D. sich von mir hat scheiden lassen, als niemand mehr getäuscht werden musste, habe ich sie einfach an mich genommen. Weil es ja meine Briefe sind, nicht wahr. Es waren immer meine.«
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.
Carol sah den Ausdruck in meinem Gesicht und legte ihre zerbrechlichen Hände auf meine Schultern. »Reg dich nicht auf. Die Welt ist voller Überraschungen. Wir sind uns und einander von Geburt an fremd — und nur selten werden wir formell vorgestellt.«
Also brachte ich vier Wochen in einem Motelzimmer in Vermont zu und versorgte Diane, während sie langsam gesundete.
Körperlich gesundete, sollte ich sagen. Das emotionale Trauma, das sie auf der Condon-Ranch und später erlitten hatte, wirkte nach, schlug sich in Erschöpfung und Introvertiertheit nieder. Sie hatte sich schon verabschiedet von einer Welt, die zu Ende zu gehen schien — und fand sich dann wider Erwarten in einer ganz anderen Welt wieder. Es stand nicht in meiner Macht, sie mit dem allen zu versöhnen. Ich erklärte, was erklärt werden musste. Ich erhob keine Forderungen und machte deutlich, dass ich keine Belohnung erwartete.
Ihr Interesse an der veränderten Welt wuchs nach und nach. Sie erkundigte sich nach der wieder in ihre angestammte Funktion eingesetzten Sonne, und ich gab an sie weiter, was mir Jason erzählt hatte: Die Spinmembran war noch da, aber die zeitliche Umhüllung beendet; sie schützte uns weiterhin, wie sie es die ganze Zeit getan hatte, indem sie die tödliche Strahlung in ein Simulakrum von Sonnenlicht umwandelte, das für das Ökosystem des Planeten verträglich war.
»Warum haben sie die Membran dann für sieben Tage abgeschaltet?«
»Sie wurde herunter geschaltet, nicht abgeschaltet. Und das haben sie gemacht, damit etwas durch die Membran hindurchkommen konnte.«
»Das Ding im Indischen Ozean.«
»Ja.«
Sie bat mich, ihr die Aufnahme von Jasons letzten Stunden vorzuspielen, und sie weinte, als sie sie hörte. Sie fragte nach seiner Asche. Hatte E. D. sie an sich genommen oder hatte Carol sie behalten? (Keines von beidem — Carol hatte sie mir in die Hand gedrückt mit der Aufforderung, ich solle damit machen, was mir angemessen erscheine. »Die Wahrheit ist, Tyler, dass du ihn besser kanntest als ich. Jason war für mich ein Geheimnis. Der Sohn seines Vaters. Aber du warst sein Freund.«)
Wir beobachteten, wie sich die Welt wiederentdeckte. Die Massenbegräbnisse nahmen ein Ende. Die trauernden, verängstigten Überlebenden begann zu begreifen, dass der Planet seine Zukunft zurückgewonnen hatte — so merkwürdig und fremd diese Zukunft auch sein mochte. Für unsere Generation war das ein atemberaubender Umschwung, der Mantel der Auslöschung war uns von den Schultern geglitten. Was würden wir ohne ihn anfangen? Wie würden wir darauf reagieren, dass wir nicht mehr zum Tode verdammt, dass wir nur noch sterblich waren?
Wir sahen die Aufnahmen der gewaltigen Konstruktion im Indischen Ozean, die sich in die Haut des Planeten gegraben hatte. Noch immer verdampfte das Meerwasser, wo es mit den gewaltigen Säulen in Berührung kam. Der Bogen, wurde er bald genannt, oder auch der Torbogen, nicht nur seiner Form wegen, auch weil etliche auf See befindliche Schiffe in die Häfen zurückkehrten mit Berichten über verschwundene Navigationspunkte, eigenartiges Wetter, durchdrehende Kompasse und Küstenlinien, wo es gar kein Land hätte geben dürfen. Diverse Seestreitkräfte wurden in Marsch gesetzt. Jasons »Testament« gab Hinweise auf eine Erklärung der Vorgänge, doch nur wenige Menschen wussten davon — ich, Diane, das Dutzend, denen es mit der Post zugestellt worden war.
Diane begann etwas für ihre Fitness zu tun, joggte, während das Wetter herbstlich wurde, auf einem unbefestigten Weg hinter dem Motel und kehrte mit dem Geruch nach gefallenem Laub und Holzrauch in den Haaren zurück. Ihr Appetit wuchs, ebenso wie das Speisenangebot im Coffeeshop. Es wurden wieder Nahrungsmittel geliefert, die Wirtschaft kam langsam wieder in Gang.
Wir erfuhren, dass auch der Mars vom Spin befreit war. Signale waren zwischen den beiden Planeten hin- und hergegangen, und in einer seiner Reden deutete Präsident Lomax an, dass das Raumfahrtprogramm wiederaufgelegt werden sollte, ein erster Schritt auf dem Weg zur Aufnahme ständiger Beziehungen mit »unserem Schwesterplaneten«, wie er sich ausdrückte.
Wir sprachen über die Vergangenheit. Wir sprachen über die Zukunft.
Was wir nicht taten: Wir fielen uns nicht in die Arme.
Wir kannten einander zu gut — oder nicht gut genug. Wir hatten eine Vergangenheit, aber keine Gegenwart. Und Diane machte sich große Sorgen um Simon.
»Er hat dich beinahe sterben lassen«, erinnerte ich sie.
»Nicht mit Absicht. Er ist nicht boshaft. Das weißt du.«
»Dann ist er gefährlich naiv.«
Nachdenklich schloss sie die Augen. Dann sagte sie: »Es gibt da eine Wendung, die Pastor Kobel vom Jordan Tabernacle gebrauchte: ›Sein Herz schrie nach Gott‹. Wenn es jemanden gibt, auf den das passt, dann Simon. Aber man muss den Satz verallgemeinern. ›Sein Herz schrie‹ — ich glaube, das sind wir alle, das ist universell. Du, Simon, ich, Jason. Sogar Carol. Und auch E. D. Wenn Menschen begreifen, wie groß das Universum und wie kurz ihr Leben ist, dann schreit ihr Herz auf. Manchmal ist es ein Freudenschrei — ich glaube, das war es bei Jason, und das war es, was ich an ihm nicht verstanden habe: Er war in der Lage, Ehrfurcht zu empfinden. Doch für die meisten von uns ist es ein Schreckensschrei. Der Schrecken des Todes, der Schrecken der Sinnlosigkeit. Unsere Herzen schreien auf. Vielleicht nach Gott, vielleicht nur, um das Schweigen zu übertönen.« Sie strich sich die Haare aus der Stirn, und ich sah, dass ihr Arm, vor nicht allzu langer Zeit noch erschreckend dünn, wieder rund und kräftig geworden war. »Ich glaube, der Schrei, der sich aus Simons Herz gelöst hat, war der reinste, unverfälschteste Laut, zu dem Menschen fähig sind. Nein, er ist kein guter Menschenkenner. Ja, er ist naiv. Deshalb ist er auch von einem Glauben zum nächsten geirrt: New Kingdom, Jordan Tabernacle, die Condon-Ranch — egal was, solange es offen und freimütig war, solange es ihm vermittelte, dass die Menschen eine Bedeutung haben.«
»Und unterdessen hättest du elendig zugrunde gehen können.«
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