Er ließ seine Blicke zum Horizont wandern, wo der heiße Dunst der Stadt hochstieg in einen trostlosen blauen Himmel.
Er aß in einer Cafeteria zu Mittag, ging später dann zu Mario’s, einem Kellercafé unter einem Buchladen, bevor Joyce auf die Bühne kam. Die »Bühne« war eine Plattform aus Holzlatten, die mit Sperrholzplatten abgedeckt waren. Dort standen ein Korbstuhl und ein rostfleckiger Mikrofonständer. Letzterer war nicht unbedingt nötig, wenn man den doch recht kleinen Raum betrachtete. Tom setzte sich an einen Tisch in der Nähe der Tür.
Joyce erschien mit ihrer zwölfsaitigen Hohner und einem nervösen Lächeln. In einem Anflug von Eitelkeit hatte sie sich entschlossen, auf der Bühne auf ihre Brille zu verzichten, und Tom war etwas eifersüchtig. Ohne Brille sah er sie nur, wenn sie zusammen im Bett lagen. Ohne Brille und im Licht der Bühnenbeleuchtung war ihr Gesicht unscheinbar, oval und ein wenig eulenhaft. Sie schaute blinzelnd ins Publikum und zog das Mikrofon näher an den Stuhl heran.
Sie begann zaghaft, ließ sich vom Klang der Gitarre tragen. Sie verließ sich mehr auf ihre Finger als auf ihre Stimme. Tom saß inmitten des allmählich ruhiger werdenden Publikums, während sie ein paar Akkordfolgen spielte und einmal innehielt, um eine Saite nachzustimmen. Er schloss die Augen und lauschte dem vollen Klang der Hohner-Gitarre.
»Dies ist ein alter Song«, sagte Joyce.
Sie sang »Fannerio«, und Tom spürte die scharfe Dissonanz der verschiedenen Zeiträume. Dort saß diese langhaarige Frau in einem Café im Village und spielte Folkballaden. Es war ein Bild, das er mit verblassten Technicolorfilmen, zerfledderten Schallplattencovern auf Trödelmärkten, modrigen alten Life- Nummern in Verbindung brachte. Es war ein Klischee, und es war schmerzlich naiv.
Aber dies war Joyce, und sie liebte diese Texte und diese Melodien.
Sie sang »The Bells of Rhymney« und »Lonesome Traveler« und »Nine Hundred Miles«. Ihre Stimme klang direkt, kontrolliert und manchmal untröstlich traurig.
Vielleicht hatte Larry recht, dachte Tom. Wir lieben sie wegen ihrer Güte, und dann treiben wir sie ihr aus.
Was hatte er ihr gegeben?
Eine Zukunft, die sie nicht wollte. Eine Nacht des nackten Grauens in einem Erdloch unter den Mauern von Manhattan. Eine Bürde unbeantwortbarer Fragen.
Er war in ihr Leben getreten wie ein Schatten, wie ein unheiliger Geist, der ihr mit seinem knochigen Finger ihr Grab zuwies.
Er wünschte sich ihren Optimismus und ihre Innigkeit und ihre bedingungslose Anteilnahme, weil er selbst nichts von alledem hatte… weil er all diese Dinge in seiner eigenen unzulänglichen Vergangenheit abgelegt hatte.
Sie sang »Maid of Constant Sorrow« unter einem blauen Scheinwerfer, allein auf einer winzigen Bühne.
Tom dachte an Barbara.
Der Applaus war großzügig. Ein Hut wurde herumgereicht, sie winkte und trat zurück in den Schatten. Tom ging nach vorn und hinter die Bühne, wo sie gerade ihre Gitarre in den Koffer legte. Ihr Gesicht war ernst.
Sie schaute hoch. »Der Geschäftsführer hat gesagt, Lawrence habe angerufen.«
»Hier?«
»Er sagte, er habe den ganzen Tag versucht, uns zu erreichen. Er will, dass wir zu ihm in seine Wohnung kommen; es muss wohl sehr dringend sein.«
Was war los? »Vielleicht ist er betrunken.«
»Möglich. Aber es sieht ihm gar nicht ähnlich, hier anzurufen. Ich denke, wir sollten uns beeilen.«
Sie gingen zu Fuß. Joyce rannte fast und machte sich offensichtlich große Sorgen. Tom war mehr verwirrt als besorgt, aber er machte keine Anstalten, sie zu bremsen.
Sie vergeudeten keine Zeit. Aber sie kamen trotzdem zu spät.
Eine Menschenmenge drängte sich im Treppenhaus, und in der Ferne erklang eine Sirene. Auf der Treppe überall Blut, Blut an den Wänden, Blut, das unter der Tür von Millsteins Apartment hervorgequollen war, eine unglaubliche Menge Blut. Tom versuchte, Joyce zurückzuhalten, aber sie riss sich von ihm los und schrie Lawrences Namen mit einer Stimme, die bereits voller Trauer war.
Eingehüllt in seine Rüstung, wachsam und vollständig mit Energie aufgeladen, identifizierte Billy das blaue Leuchten an der Apartmenttür und stellte sein Sichtgerät auf Breitbandfunktion. Sein Herz schlug in seiner Brust wie eine herrliche Maschine, und seine Gedanken waren schnell und klar.
Der Korridor war leer. Der empfindliche Sinnesapparat Billys katalogisierte den Geruch von Weißkohl, Kakerlakengift, schimmeligem Linoleum; das blasse Blumenmuster der Tapete; die behutsamen Schritte und den Druck seiner Füße auf dem Fußboden.
Er brannte das Schloss mit einem Fingerlaser auf und bewegte sich mit einem Tempo durch die Tür, dass die Angeln ein leises Quietschen von sich gaben, als seien sie überrascht worden.
Er schloss die Tür hinter sich.
Das Apartment war lang gestreckt und hatte einen rechteckigen Grundriss. Eine Tür, offen, führte in die Küche, und eine andere Tür, geschlossen, wahrscheinlich in das Schlafzimmer. Durch ein Fenster am Ende des rechteckigen Raums war die nächtliche Silhouette der Con-Edison-Schornsteine in der Fourteenth Street zu erkennen. Ein Vorhang war mit einem Band zusammengerafft, das an einem einzelnen Nagel befestigt war. Die Wand zur Linken war mit Bücherregalen bedeckt.
Der Raum war leer.
Billy stand einen Moment lang da und lauschte.
Dieser Raum und die Küche waren leer… aber er hörte aus dem Schlafzimmer ein leises Rascheln.
Er lächelte und öffnete diese Tür genauso schnell wie die erste.
Dieser Raum war kleiner und sogar noch schäbiger. Die Wände waren kahl bis auf einen notdürftig gerahmten Druck von einem abstrakten Gemälde. Das Bett bestand aus einer Matratze auf dem Fußboden. In dem Bett lag ein Mann.
Billys Lächeln erstarb, denn das war nicht der Mann, dem er von Lindner’s gefolgt war.
Dies war ein anderer Mann. Dieser war groß und schmalbrüstig. Er war nackt, zog ein Baumwolllaken über sich und blinzelte Billy in der Dunkelheit mit vor Verwunderung weit aufgerissenem Mund an.
»Wer, zum Teufel, sind Sie?«, fragte der Mann auf der Matratze.
»Aufstehen«, befahl Billy.
Der Mann stand nicht auf.
Er weiß nicht, wer ich bin, erkannte Billy. Er denkt, ich bin ein alter Mann mit einer Motorradbrille. Es ist dunkel; er kann nicht sehr gut sehen. Vielleicht hält er mich für einen Dieb.
Billy korrigierte diesen Eindruck, indem er neben dem ausgestreckten linken Arm des nackten Mannes ein Loch in die Matratze brannte. Das Loch war groß und tief. Es stank nach versengtem Kapok und Baumwolle und nach dem Bohnerwachs auf dem Holzfußboden darunter. Das Loch war schwarz und begann sofort an den Rändern zu brennen. Der nackte Mann stieß einen Schrei aus und erstickte die Flammen mit seiner Decke. Dann sah er zu Billy hoch, und Billy genoss die Angst in seinen Augen. Es war die Art von Angst, die ihn gehorsam und beeinflussbar machte, noch nicht die panikartige Furcht, die ihn unberechenbar werden ließ.
»Aufstehen«, wiederholte Billy.
Als er stand, war der Mann ziemlich groß, aber zu dünn.
Billy fühlte sich durch den schütteren Bartsaum, die sich deutlich abzeichnenden Rippen, das Zittern der Hüftknochen abgestoßen. Sein Penis und das verschrumpelte Skrotum baumelten mitleiderregend zwischen seinen Beinen.
Billy stellte sich vor, wie er den Fleischsack wegbrannte und damit diesen Mann in ähnlicher Weise veränderte, wie die Infanterieärzte es mit ihm getan hatten… aber das war keine vernünftige Taktik.
»Wo ist der Mann, der hier wohnt?«, fragte Billy.
Der nackte Mann schluckte zweimal und erwiderte: »Ich bin der Mann, der hier wohnt.«
Billy ging zur Wand und knipste die Beleuchtung an. Das Licht kam von einer Sechzig-Watt-Birne, die an einer mehrfach verknoteten Schnur von der Decke herabhing. Qualm von der versengten Matratze stieg hoch. Billys Sichtgerät passte sich sofort an dieses neue Licht an und senkte seinen Verstärkungsfaktor. Der nackte Mann blinzelte und kniff die Augen zusammen.
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