Tom schlief drei Stunden lang. Er wachte auf und fand Joyce neben sich. Aber er hatte das Gefühl, als hätte er sie bereits verloren.
Er telefonierte mit Max und sagte Bescheid, er komme nicht zur Arbeit. »Vielleicht bin ich am Samstag da und hole die verlorene Zeit nach.«
»Bist du krank?«, wollte Max wissen. »Oder führst du mich an der Nase herum?«
»Es ist wichtig, Max.«
»Wenigstens belügst du mich nicht. Sehr wichtig?«
»Sehr wichtig.«
»Hoffentlich. Das passt mir gar nicht.«
»Es tut mir leid.«
»Bring deine Angelegenheiten möglichst bald in Ordnung, ja? Du leistest gute Arbeit. Und ich habe keine Lust, schon wieder einen Neuen anzulernen.«
Das Problem war nicht Joyce. Das Problem lag in dieser empfindlichen Verbindung, die wahrscheinlich zerbrochen war.
Sie schlief noch, lag entspannt auf ihrer Seite des Bettes und hatte eine Hand unter ihr Kopfkissen geschoben. Das Baumwolllaken war zwischen ihre Beine gerutscht. Ihre Brille lag auf der Apfelsinenkiste neben dem Bett. Sie sah ohne die Brille nackt aus, wehrlos, zu jung. Tom betrachtete sie, trank Kaffee, bis sie einen unglücklichen Laut ausstieß und sich umdrehte.
Er wagte kaum, sich klarzumachen, was dies alles für sie bedeutete. Zuerst war da die interessante Neuigkeit, dass der Mann, mit dem sie zusammenlebte, ein Besucher aus der Zukunft war… gefolgt von einer Begegnung mit etwas Sonderbarem und Monströsem in einem Tunnel unter der Erde. Dies waren Erlebnisse, die eigentlich niemand haben sollte. Vielleicht hasste sie ihn deshalb. Vielleicht sollte sie das auch.
Er wälzte diese Gedanken in seinem Kopf, als sie aus dem Schlafzimmer herausstolperte und sich auf einen Stuhl am dreibeinigen Küchentisch fallen ließ. Tom füllte eine Kaffeetasse für sie und stellte erleichtert fest, dass der Blick, mit dem sie ihn musterte, in keiner Weise hasserfüllt war. Sie gähnte und strich sich das Haar aus der Stirn. »Hast du Hunger?«, fragte er sie. Sie schüttelte den Kopf. »Oh, Gott. Jetzt etwas essen? Bitte, nein.«
Nichts Hasserfülltes in der Art und Weise, wie sie ihn betrachtete, dachte Tom, aber etwas Neues und Beunruhigendes: ein verletztes, gequältes Erstaunen.
Sie trank ihren Kaffee. Sie sagte, sie habe an diesem Abend einen Auftritt in einem Café namens Mario’s. »Aber ich weiß nicht, ob ich das bringe.«
»Das war eine ziemlich harte Nacht«, stellte Tom fest.
Sie starrte stirnrunzelnd in ihre Kaffeetasse. »Es war doch alles real, oder? Ich denke die ganze Zeit, es war ein Traum oder irgendeine Halluzination. Aber das war wohl nicht der Fall. Wir könnten dorthin zurückkehren, und es wäre noch alles da.«
Tom nickte. »Das wäre es. Wir sollten es aber nicht tun.«
»Wir müssen reden«, sagte sie.
Er nickte. »Ich weiß.«
Sie gingen durch den vormittäglichen Sonnenschein und den Juligeruch von aufgeweichtem Asphalt und heißem Beton zum Frühstücken.
Die Stadt hatte sich seit gestern Abend auch verändert, dachte Tom.
Es war eine Stadt, verloren im Brunnen der Zeit, verzaubert und unendlich fremd, unterirdisch, mehr Legende als Wirklichkeit. Er war aus einer Welt der Enttäuschung und des Irrtums hierhergekommen und hatte ein Taschenuniversum voller Optimisten und zynischer Romantiker entdeckt — mit Menschen wie Joyce, wie Soderman, wie Larry Millstein. Sie sagten, sie hassten die Welt, in der sie lebten, aber Tom wusste es besser. Sie liebten sie mit ihrer Entrüstung und ihren Gedichten. Sie liebten sie mit der Überzeugung ihres eigenen Neuseins. Sie glaubten an eine Zukunft, die sie nicht definieren, sondern nur erahnen konnten — sie benutzten Worte wie »Gerechtigkeit« und »Schönheit«, Worte, die ihren eigenen grundlegenden Optimismus verrieten. Sie glaubten ohne Scham an die Möglichkeit der Liebe und an die Macht der Wahrheit. Sogar Lawrence Millstein glaubte an diese Dinge. Tom hatte einen Durchschlag von einem seiner Gedichte gefunden, den Joyce in einer Küchenschublade vergessen hatte. Das Wort »morgen« war unterstrichen — » … morgenwie ein Vater, der seine müden Kinder liebt und sie zusammensucht«. Ja, dachte Tom, du bist einer von ihnen, Larry, immer vor dich hinbrütend und schlecht gelaunt, aber du singst das gleiche Lied wie sie. Und von all diesen Menschen war Joyce die reinste Inkarnation. Ihre Augen waren auf die Bosheiten der Welt gerichtet, aber sie sah darüber hinweg in einer Art Erlösung, unentdeckt, ein versunkenes Jahrtausend, das wie ein Meerestier dem Licht entgegensteigt.
All das in dieser heißen, schmutzigen, oft gefährlichen und rundum wunderbaren Stadt, in dieser Nautilusschale vergessener Ereignisse.
Aber ich habe das verändert, dachte Tom.
Ich habe es vergiftet.
Er hatte die Stadt mit Alltäglichkeiten, mit Langeweile vergiftet. Die Schlussfolgerung war unausweichlich: Wenn er hierbliebe, würde dies lediglich zu einem Ort werden, an dem er lebte, wären die Morgenzeitungen und die Abendnachrichten nicht wundervoll, sondern vorhersagbar, genauso banal und selbstverständlich wie sein morgendlicher Gang zur Toilette. Sein einziger Trost wäre ein großes, privates auf die Zukunft gerichtetes Panoramafenster, dreißig Jahre breit. Und Joyce.
Das ist Trost genug, dachte Tom… es sei denn, er vergiftete auch sie.
Er versuchte sich daran zu erinnern, was er am Abend vorher gesagt hatte, ein betrunkenes Aufzählen irgendwelcher grundlegender Geschichtsdaten. Zu viel, wahrscheinlich. Er begriff nun, was er gestern schon hätte begreifen sollen: dass er ihr nicht die Zukunft schenkte, sondern dass er sie ihr stahl. Er nahm ihr den Wein ihres Optimismus und gab ihr dafür den sauren Essig seiner eigenen Desillusionierung.
Er bestellte Frühstück in einem kleinen Imbissrestaurant, wo die Serviererin, eine zierliche Farbige namens Mirabelle, sie kannte. »Ihr seht müde aus«, stellte Mirabelle fest. »Und zwar ihr beide.«
»Kaffee«, sagte Tom. »Und zwei Brötchen.«
»Ihr braucht keine Brötchen. Ihr braucht etwas, das euch aufbaut. Ihr braucht Eier.«
»Wenn ich jetzt nur ein Ei sehe«, sagte Joyce, »dann kommt’s mir hoch.«
»Dann nur Brötchen?«
»Das reicht schon«, sagte Tom. »Vielen Dank.«
Joyce sah ihn nicht an. »Ich möchte heute mal etwas allein sein.«
»Das verstehe ich.«
»Du bist sehr rücksichtsvoll«, sagte Joyce. »Du bist ein sehr rücksichtsvoller Mann, Tom. Ist das dort, wo du herkommst, üblich?«
»Wahrscheinlich nicht üblich genug.«
»Die Hälfte der Männer hier reiten die Dylan-Thomas-Masche — sehr scharf und sehr betrunken. Sie deklamieren die schlimmsten Gedichte, und dann sind sie beleidigt, wenn man keine weichen Knie bekommt und sich nicht auf der Stelle auszieht.«
»Und die andere Hälfte?«
»Die ist liebenswert, aber schwul. Du bist eine nette Ausnahme.«
»Vielen Dank.«
»Trotzdem stört mich etwas.«
»Das überrascht mich nicht.«
»Tom, ich weiß, weshalb du mich belogen hast. Das ist durchaus begreiflich. Und es war auch keine richtige Lüge — du hast einfach ein paar Dinge für dich behalten. Weil du nicht wusstest, ob ich sie verstehen würde. Nun, das ist in Ordnung.«
»Jetzt bist du sehr rücksichtsvoll«, gab er ihr Kompliment zurück.
»Nein, es ist wahr. Aber was ich nicht verstehe: weshalb du hier bist. Ich meine, wenn ich ein Loch in der Erde fände mit dem Jahr 1932 am anderen Ende, dann würde ich ganz gewiss nachschauen… aber weshalb würde ich dort leben wollen? Um mir ein paar Filme mit Myrna Loy anzusehen oder ein Schwätzchen mit F. Scott Fitzgerald zu halten? Vielleicht um Herbert Hoover einmal in Fleisch und Blut sehen zu können? Sicher, es wäre absolut faszinierend, das gebe ich zu. Aber ich habe doch ein Leben.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich denke, es wäre etwas anderes, wenn der Tunnel in die andere Richtung verlaufen würde. Es würde mich eher reizen, ein paar Jahrzehnte in die Zukunft zu springen. Aber einen riesigen Schritt zurück zu tun — das ergibt für mich nicht allzu viel Sinn.«
Читать дальше