»Demnach sind sie Archäologen«, schloss Catherine.
»Archäologen und Historiker. Beobachter. Sie achten darauf, sich nicht einzumischen. Dieses Projekt hat auch für sie eine begrenzte Dauer. Die Zeit verstreicht an beiden Enden der Verbindungslinie. Sie arbeiten in einem auf zweihundert Jahre angesetzten Projekt, um ihr Wissen über diese wichtigen Jahrhunderte zu vervollständigen. Wenn sie diese Aufgabe erfüllt haben, wollen sie die Tunnel abbauen. Sie machen sich Sorgen wegen der Auswirkungen des Paradoxons; mit diesem Problem wollen sie sich nicht herumschlagen.«
»Des Paradoxons?«, fragte Catherine.
Archer nickte. »Ein Zeitparodoxon. Zum Beispiel, wenn du deinen eigenen Großvater tötest, ehe du geboren wirst, existierst du dann noch?«
Sie betrachtete ihn staunend. »Woher weißt du das denn?«
»Ich hab früher sehr viel Science-Fiction gelesen.«
»Ich habe gehört, es gibt erste Erklärungsversuche«, sagte Ben. »Das Problem ist nicht so überwältigend, wie man vielleicht den Eindruck haben könnte. Aber niemand ist begierig, einen praktischen Versuch durchzuführen.«
Archer kratzte sich am Kopf. »Allein die Anwesenheit von jemandem aus der Zukunft könnte schon gewisse Auswirkungen haben. Wenn diese Person auch nur eine Pflanze ausreißt oder einen Käfer zerquetscht.«
Ben lächelte. »Dieses Phänomen ist nicht nur auf die Zeitreisen beschränkt. In der Meteorologie nennt man es ›die empfindliche Abhängigkeit von ursprünglichen Bedingungen‹. Die Atmosphäre ist ein einziges Chaos. Ein kleiner Vorfall an einem Ort kann an einem anderen eine enorme Wirkung hervorrufen. Wenn man in China mit der Hand hin und her wedelt, kann man damit einen Sturm im Atlantik auslösen. In ähnlicher Weise könnte man den Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahl im Jahr 1996 beeinflussen, indem man um 1880 ein Insekt zertritt. Die Analogie ist recht gut, Doug, aber die Verbindung ist nicht unbedingt kausaler Natur. Es gibt stabile Elemente in der Atmosphäre, die stets wiederkehren, egal was passiert…«
»Attraktoren«, warf Archer ein.
Ben gefiel das. »Sie beschäftigen sich mit moderner Mathematik?«
Archer grinste. »Ich versuche es.«
»Mir wurde angedeutet, dass es ähnliche Strukturen auch in der historischen Zeit gibt; sie tauchen immer wieder auf. Aber ja, die Möglichkeit zu einer Veränderung besteht. Es ist ein Beobachterphänomen. Die Regel lautet, dass die Gegenwart immer die Gegenwart ist. Die Vergangenheit ist stets fixiert und unveränderlich, die Zukunft ist immer unbestimmt, egal, wo man sich befindet.«
»Von hier aus betrachtet«, sagte Archer, »ist das Jahr 1988 unveränderlich.«
»Weil es die Vergangenheit ist.«
»Aber wenn ich drei Jahre weit zurückginge…«
»Dann wäre es die Zukunft, daher unvorhersagbar.«
»Aber da ist doch schon das Paradoxon«, sagte Archer. »Es ergibt keinen Sinn.«
Ben nickte. Er hatte sich bereits selbst mit dieser Idee beschäftigt — und sich dann geschlagen gegeben. Es war ein Zen-Paradoxon, das zufälligerweise zutraf und dem daher nicht widersprochen werden konnte. »So funktioniert die Zeit eben«, sagte er. »Wenn es keinen Sinn ergibt, dann nur deshalb, weil man nichts Sinnvolles mit ihr angefangen hat.«
»Sie sagten, es gebe dafür eine ganz spezielle Mathematik?«
»Ich habe etwas Derartiges gehört.«
»Sie kennen sie nicht?«
»Es ist keine Mathematik des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie kommt mehrere Jahrhunderte später. Ich bezweifle, dass Sie oder ich dies ohne einen gewissen Zuwachs an neuraler Substanz begreifen können.«
Catherine schüttelte den Kopf. »Das alles ist furchtbar abstrakt.«
Archer nickte und beschäftigte sich für einen Moment mit eigenen Gedanken.
Ben schaute aus dem Fenster. Er fand, dass diese Douglasfichten etwas ungemein Beruhigendes ausstrahlten. Dazu gehörte auch das Geräusch, das sie verursachten, wenn der Wind hindurchstrich.
Archer räusperte sich. »Ich habe noch eine weitere wichtige Frage.«
Die kritische Frage. »Sie wollen sicherlich wissen, was schiefgelaufen ist.«
Archer nickte.
Ben seufzte und atmete tief durch. Diese Erinnerungen machten ihm keine Freude.
Er hatte das Folgende aus seinen eigenen Erfahrungen, aus den fragmentarischen Erinnerungen der kybernetischen Helfer und aus Hinweisen konstruiert, die der Tunnel selbst geliefert hatte.
Es gab ein Haus wie dieses, erzählte er Archer und Catherine, ein vorübergehendes Depot, in der zweiten Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Es stand in Florida, in jener Zeit Schauplatz heftigster tropischer Unwetter und des Bürgerkriegs.
Der Wächter des Hauses war eine Frau namens Ann Heath gewesen.
(Ann, dachte er, es tut mir leid, dass dies passieren musste. Du warst sehr gütig, als du mich rekrutiert hast, und ich hatte nie die Gelegenheit, dir diese Güte zu vergelten. Die Zeit mag zwar bereist werden können, aber sie lässt sich nicht beherrschen. Das Unerwartete passiert nun mal, und auf lange Sicht sind wir alle sterblich.)
Das Haus in Florida sollte geschlossen werden. Die Umgebung wurde zu unberechenbar. Aber etwas Unerwartetes geschah kurz vor der Schließung. Soweit Ben aus den verfügbaren Hinweisen schließen konnte, drangen Streitkräfte der amerikanischen Regierung in das Haus ein.
Das Haus verfügte über einige Verteidigungsanlagen, ebenso Ann Heath, aber wahrscheinlich waren diese wegen der Schließung bereits entfernt worden. Jedenfalls waren die Soldaten des schlimmen letzten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts wirklich hervorragend und verfügten über Waffen und Rüstungen, die tief in ihren Körpern und Nervensystemen verankert waren.
Einer dieser Männer musste das Haus in Besitz genommen, Ann überwältigt und sie dann gezwungen haben, einige der Geheimnisse des Tunnels zu offenbaren. Der Mann hatte diese Informationen benutzt, um in die Vergangenheit zu fliehen.
(Sie muss tot sein, dachte Ben. Sie haben sie sicherlich getötet.)
Der Eindringling war ohne Vorwarnung hier aufgetaucht, hatte die kybernetischen Helfer mit einem elektromagnetischen Impuls ausgeschaltet, einen großen Teil von Bens Körper zerstört und seine Leiche in den Holzschuppen geschafft. Der Angriff war schnell und erfolgreich abgelaufen.
Dann hatte der Eindringling einen etwa dreißig Jahre langen Tunnel geöffnet, der zu einem Knoten in New York City führte, wo er eine ähnliche Attacke ausgeführt hatte, diese aber gründlicher. Ein weiterer Wächter und all seine kybernetischen Helfer waren unwiederbringlich vernichtet worden.
Schließlich — als letzte, raffinierte Verteidigungsmaßnahme — hatte der Eindringling die Kontrolleinrichtungen des Tunnels funktionsunfähig gemacht, sodass die Verbindung zwischen Belltower und Manhattan permanent offen blieb.
»Permanent offen?«, fragte Catherine. »Was ist denn daran sinnvoll?«
Ben verlor sich für einen Moment in temporaler Heuristik, dann fiel ihm ein simpler Vergleich ein. »Stellen Sie sich die Knoten als Endpunkte eines Telefonnetzes vor. Gleichzeitige Verbindungen sind unmöglich. Ich kann sehr viele verschiedene Endpunkte von meinem Apparat aus anrufen, aber immer nur einen zu einer bestimmten Zeit. So lange die Verbindung mit Manhattan hergestellt ist, kann keine andere Verbindung geschlossen werden.«
»Anders ausgedrückt«, sagte Catherine, »an beiden Enden wurde der Hörer nicht aufgelegt.«
»Genau das meine ich. Er hat sich selbst ausgesperrt. Und uns gleich mit.«
»Aber wenn ein Telefon nicht funktioniert«, sagte Catherine, »kann man immer noch hingehen und an die Tür klopfen. Jemand von einer anderen Endstation hätte doch hingehen und helfen können. Besser noch, sie hätten Sie warnen können. Man hätte 1962 eine Nachricht hinterlassen können: Nehmen Sie sich in siebzehn Jahren vor einem gefährlichen Burschen in Acht«
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