Catherine nickte. »So wurden Sie also Zeitreisender?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich wurde rekrutiert und dazu verpflichtet. Catherine, wenn Sie das einundzwanzigste Jahrhundert besuchten, würden Sie dort sehr viele wunderbare Dinge finden, aber die Zeitreise ist nicht dabei. Jeder halbwegs ernsthafte Physiker meiner eigenen Epoche hätte diese Idee von vornherein als unsinnig verworfen. Nicht den Gedanken, dass die Zeit grundsätzlich unveränderbar und vielleicht nicht linear ist, sondern die Vorstellung, dass menschliche Wesen sich in ihr bewegen können. Das Wasser im Ozean ist wie das Wasser in einem Swimmingpool, aber man kann nicht hinüberschwimmen. Ich wurde von Wesen aus meiner eigenen Zukunft ausgesucht, die wiederum von anderen aus ihrer Zukunft rekrutiert worden waren, und so weiter.«
»Ähnlich wie Trittsteine in einem Fluss«, sagte Archer.
»Genauso.«
»Aber wozu wurden Sie ausgewählt?«
»Vorwiegend als Hausmeister. Um in diesem Haus zu wohnen. Um es zu warten und zu schützen.«
»Weshalb?«, fragte Catherine, aber er vermutete, dass sie die Antwort längst wusste.
»Weil dieses Haus eine Art Zeitmaschine ist.«
»Demnach sind Sie gar kein richtiger Zeitreisender«, stellte Archer fest. »Ich meine, Sie kommen aus der Zukunft… aber Sie sind nur eine Art Angestellter.«
»Ich denke, diese Beschreibung passt sehr gut.«
»Die Maschine in diesem Haus funktioniert nicht so, wie sie sollte — habe ich recht?«
Er nickte.
»Aber wenn sie es täte, und Sie wären der Wächter, wer könnte dann hierherkommen? Wer sind die wahren Zeitreisenden?«
Dies war eine heiklere Frage und weitaus schwieriger zu beantworten. »Die meiste Zeit, Doug, käme niemand hierher. Hier herrscht nicht viel Betrieb. Ich sammle vorwiegend zeitgenössische Dokumente, Bücher, Zeitungen, Illustrierte, und schicke sie weiter.«
»An wen?«, wollte Catherine wissen.
»An Leute aus einer Zeit, die meiner eigenen sehr fern ist. Sie sehen menschlich aus, aber sie sind es nicht ganz. Sie haben die Tunnel geschaffen, die Zeitmaschinen.«
Er fragte sich, wie viel Sinn das für sie ergab. »Die wahren Zeitreisenden«, hatte Archer gesagt. Die Beschreibung war genauso gut wie alle anderen. Ben zitterte immer ein wenig bei den Gelegenheiten, wenn er mit diesen Wesen zusammentraf. Sie waren freundlich und nur ein wenig hochmütig. Aber man war sich der evolutionären Kluft stets bewusst. »Bitte, verstehen Sie eines: Vieles von dem entzieht sich meinem Verständnis genauso wie dem Ihren. Alles, was ich wirklich weiß, sind Legenden, die von Leuten wie mir weitergegeben werden, von anderen Wächtern, anderen Hausmeistern. Legenden aus der Zukunft, so könnte man sie nennen.«
»Dann erzählen Sie uns einige«, bat Archer.
Sie beschäftigen sich, berichtete Ben, mit dem Leben auf der Erde.
Man sollte das Ganze mal unter dem Aspekt der geologischen Zeit betrachten.
Im urzeitlichen Sonnensystem wurde die Form der Erde durch die Kollisionen von Kleinplaneten und Meteoriten geschaffen, die auf ihren Kreisbahnen durch das All zogen. Die Erde hat einen flüssigen Kern, eine Hülle aus kälterem Gestein. Sie gibt Gase und Flüssigkeiten ab — Kohlendioxid, Wasser. Nach einiger Zeit bilden sich Atmosphäre und Meere.
Im Laufe der Jahrmillionen entsteht Leben in Gestalt kristalliner Strukturen im porösen Gestein heißer, mineralreicher untermeerischer Quellen. Nach einiger Zeit passen diese kristallinen Strukturen sich ihrem kühleren Lebensraum an, indem sie Proteine aufnehmen. Später wird das kristalline Skelett zurückgelassen, und reines, auf Protein basierendes Leben beherrscht schon bald die noch sehr primitive Biosphäre. RNS und DNS werden als genetische Erinnerung geschaffen, und die Evolution beginnt richtig. Eine fast unendliche Vielfalt von Strukturen kämpft gegen die Umgebung. Niemals wieder wird es derart komplexe Lebensformen auf der Erde geben. Die restliche Evolution wird sparsamer, nimmt einen Ausleseprozess vor.
Das Klima verändert sich. Prokaryotische Zellen vergiften die Atmosphäre mit Sauerstoff. Kontinente treiben als tektonische Platten auf dem Magma. Das Leben wogt in den langen Intervallen zwischen den Kollisionen mit Kometen auf und ab.
Die Menschheit erscheint. Es stellt sich heraus, dass die Menschheit, genauso wie die Gräser, wie blühende Pflanzen, eine der Spezies ist, die den Planeten selbst verändern kann. Sie manipuliert das klimatische Gleichgewicht und wäre beinahe in ihren eigenen Abfallprodukten ertrunken, besäße sie nicht die außerordentliche Fähigkeit, sich selbst zu modifizieren und neue Lebensformen zu schaffen. Diese sind parallele und ergänzende Technologien. Die Menschheit, vom Tode bedroht, lernt, Maschinen nach ihrem eigenen Ebenbild herzustellen. Sie lernt es, sich in grundlegender Weise zu verändern. Die beiden Fähigkeiten wirken zusammen, um eine neue Lebensform zu schaffen, selbstreproduzierend, aber nur noch andeutungsweise biologisch. Sie kann menschlich genannt werden, weil das Menschliche zu ihrer Entwicklung gehört. Sie ist die legitime Erbin der Menschheit. Aber sie unterscheidet sich von der Menschheit genauso wie kristallines Leben von dem Gestein, aus dem es geboren wurde, oder wie auf Protein basierendes Leben von den Kristallstrukturen, die ihm vorausgingen. Diese neuen Wesen sind nahezu grenzenlos anpassungsfähig. Einige leben im Meer, andere leben im Weltraum. Sie besiedelten die meisten Planeten des Sonnensystems. Sie sind sehr erfolgreich. Sie fangen an zu verstehen und manipulieren einige fundamentale Konstanten des physikalischen Universums. Sie besuchen die Sterne. Sie entdecken verborgene Strukturen im Gewebe der Zeit und des Raums.
Ben hielt inne. Er war ein wenig außer Atem geraten. Wie lange war es her, seit ihm diese Geheimnisse erklärt worden waren? Jahre, dachte er — gleichgültig, wie man es misst. »Catherine«, sagte er, »würden Sie bitte das Fenster öffnen? Draußen weht ein angenehmer Wind.« Ein wenig benommen zog sie die Jalousien hoch und kippte das Fenster. »Vielen Dank«, sagte Ben. »Sehr angenehm.«
Archer dachte nach und runzelte die Stirn. »Diese ›neuen Wesen‹ sind diejenigen, die Zeitreisen unternehmen?«
»Die die Maschine bauten, die sich in diesem Haus befindet, ja. Sie müssen begreifen, was Zeitreise bedeutet, in diesem Fall zumindest. Sie haben etwas in der Struktur von Zeit und Raum entdeckt, das man Falten nennen könnte, Risse, wenn Sie wollen, in einer Form und mit einer zeitlichen Ausdehnung außerhalb der definierbaren Grenzen dieses Universums, aber mit Berührungen und Überschneidungen an gewissen Stellen und zu gewissen Zeiten. Es gibt Knotenpunkte des Kontakts. Dieses Haus samt einer Zone ringsum von einigen hundert Metern Durchmesser ist ein solcher Knoten.«
»Warum hier?«, fragte Archer.
»Das ist eine bedeutungslose Frage. Die Knoten sind natürliche Erscheinungen, ähnlich wie Berge. Es gibt Knoten, die unter der Meeresoberfläche in der Erdkruste stecken, oder Knoten, die sich mitten in der Luft befinden.«
»Wie viele Orte wie diesen gibt es?«
Ben zuckte die Achseln. »Das habe ich nie erfahren. Sie neigen dazu, Trauben zu bilden, und zwar sowohl im Raum wie auch in der Zeit. Im zwanzigsten Jahrhundert sind sie ziemlich häufig anzutreffen. Natürlich werden nicht alle benutzt. Und dann bedenken Sie eines: Sie haben eine begrenzte Lebensdauer. Ein Knoten kann zwanzig Jahre lang wirksam sein, fünfzig Jahre, hundert Jahre, ehe er verschwindet.«
Catherine hatte den Erklärungen aufmerksam gelauscht. Sie hob eine Hand. »Habe ich das richtig verstanden? Leute, die weit vor uns in der Zukunft leben, öffnen den Zugang zu diesen Knoten, oder?«
Ben nickte.
»Aber weshalb? Wozu benutzen sie sie?«
»Sie bedienen sich ihrer zum Zweck historischer Untersuchungen. Dieses Jahrhundert — und auch das nächste, mein eigenes — markieren die Geburt ihrer Rasse. Für sie ist es die dunkle und ferne Vergangenheit.«
Читать дальше