Sie zwang ihre Augen, sich auf etwas über ihm zu richten, auf den Stapel modriger Zeitungen. »Sie sagten, Sie brauchen Hilfe?«
»Ja.«
»Ich habe Hilfe mitgebracht.«
Es war alles, was ihr in diesem Moment einfiel.
Archer drängte sich an ihr vorbei und kniete neben dem Mann nieder — falls es überhaupt ein Mann war. Sei vorsichtig!, dachte sie.
Catherine hörte das Zittern in seiner Stimme. »Was ist mit Ihnen passiert?«
Nun wanderte Catherines Blick zurück zum Kopf des Mannes, zu der Haube aus durchsichtigem Material, dort wo die Schädeldecke hätte sein sollen, und zu dem Gehirn darunter — jedenfalls nahm sie an, dass diese weißliche, undeutliche Masse sein Gehirn sein musste. Das Wesen redete weiter. »Es würde zu lange dauern, wenn ich es erklären müsste.«
»Was wollen Sie, dass wir tun?«, fragte Archer.
»Wenn Sie es schaffen, dann bringen Sie mich zurück ins Haus.«
Archer schwieg für einen Moment. Catherine bemerkte, dass er nicht fragte: In welches Haus? Ins Tom-Winter-Haus, dachte sie. Diese Dinge standen in enger Verbindung miteinander. Mysteriöse Ereignisse und lebende tote Männer.
Sie kam sich vor wie Alice im Wunderland, hoffnungslos verirrt in irgendeinem ungemütlichen Kaninchenbau.
Aber es war wenigstens etwas, das man tun konnte: dieses Monster zu Tom Winters Haus zurückzubringen. Und dass sie darüber nachdachte, wie sie es am besten taten, holte sie auf die Ebene des Praktischen zurück. Es gab ein altes Feldbett, das Grandma Peggy im Keller aufbewahrte. Sie eilte zurück ins Haus ihrer Großmutter und holte es, wobei Doug Archer ihr half. Keiner der beiden redete viel. Sie wollten noch vor Einbruch der Nacht fertig sein. Die Schatten wurden immer länger und bedrohlicher.
Wir müssen das Ding anfassen, dachte Catherine. Sie stellte sich vor, dass das verletzte Ding sich kühl und feucht anfühlen würde, wie die Quallen, die in Pudget Sound an den Strand gespült werden. Sie erschauerte, wenn sie nur daran dachte.
Archer öffnete die Tür des Schuppens und wuchtete den Fremden hoch. Er stützte das Ding — den Mann — mit den Händen unter den Armen ab und führte ihn hinaus ins nachlassende Tageslicht, wo er noch entsetzlicher aussah. Einige Stellen seiner Haut waren dunkel und voller Schuppen, andere waren fleischfarben. Aber ganze Stücke waren durchsichtig wie Fischhaut. Er blinzelte mit grauen Augenlidern ins grelle Licht. Er sah aus wie etwas, das lange unter Wasser gelegen hatte. Ein Bein fehlte. Der Stumpf endete in einer rosigen, porösen Gewebemasse.
Wenigstens gab es kein Blut.
Catherine holte tief Luft und half mit, so gut sie konnte, indem sie den Beinstumpf auf das Feldbett legte. Auch hier war bleiche Haut und ein feines Netzwerk aus Blutgefäßen darunter, als sei das Ganze eine Illustration aus einem Anatomielehrbuch. Aber das Fleisch war nicht kalt oder glitschig. Es war warm und fühlte sich an wie ganz normale Haut.
Archer hob das Kopfende des Feldbettes an und Catherine das Fußende. Der verletzte Mann war schwer, so schwer wie ein normaler Mensch. Seine Fremdartigkeit hatte ihn nicht leichter gemacht. Auch das war gut. Ein Wesen mit einem derartigen Gewicht, so argumentierte Catherine insgeheim, konnte eigentlich kein Gespenst sein.
Es war schwierig, die Röhrenbeine des Feldbettes so zu halten, dass der Mann nicht herunterrollte, und sie schwitzte, und ihre Hände verkrampften sich und schmerzten, als sie aus dem Wald hinaustraten und einen mit Moos und Farn zugewachsenen Pfad entlanggingen in den Garten des Hauses, das Archer ihr beschrieben hatte. Es war ein völlig normal und durchschnittlich aussehendes Haus.
Sie setzten das Feldbett für einen Moment auf der ungemähten Wiese ab. Archer wischte sich mit einem Taschentuch über das Gesicht. Catherine massierte ihre Hände. Sie wich seinem Blick aus. Wir wollen uns nicht bewusst machen, was wir wirklich tun, dachte sie. Lieber behandeln wir das Ganze als einen ganz normalen Notfall.
Das Ding auf dem Bett sagte etwas. »Sie sollten auf das vorbereitet sein, was Sie im Haus finden.«
Archer musterte das Wesen verblüfft. »Und was ist im Haus?«
»Maschinen. Sehr viele kleine Maschinen. Sie tun Ihnen nichts.«
»Aha«, sagte Archer. Er blickte wieder zum Haus. »Maschinen.« Er runzelte die Stirn. »Ich habe keinen Schlüssel.«
»Sie brauchen auch keinen«, sagte das Monster.
Die Tür öffnete sich schon beim ersten Versuch.
Sie trugen das Feldbett hinein, durch eine ganz normale Küche und in das große Wohnzimmer, das überhaupt nicht normal war, denn die Wände waren mit den Maschinen bedeckt, vor denen das Monster sie gewarnt hatte.
Die Maschinen — es mussten Tausende sein, dachte Catherine — waren wie winzige Edelsteine, bunt, facettiert, insektenhaft, und die Augen waren ausschließlich auf den Mann auf dem Feldbett gerichtet.
Sie waren völlig reglos, aber in Catherines Vorstellung zitterten sie vor Erregung.
Es ist wie eine Heimkehr, dachte sie verwirrt.
Nichts von alledem war möglich.
Sie begriff, dass sie an einem unerwarteten Wendepunkt in ihrem Leben angelangt war. Sie fühlte sich so, wie Menschen sich nach einem Flugzeugabsturz fühlen mussten oder nachdem ihr Haus ein Raub der Flammen geworden war. Nun war alles anders. Nichts würde mehr so sein wie vorher. Infolge dieser Ereignisse konnte man sich kein normales Bild von der Welt und ihrer Wirkungsweise mehr machen. Nichts von alledem würde hineinpassen.
Aber sie war ruhig. Außerhalb des verfallenen Holzschuppens — außerhalb des Waldes — hatte sogar das Monster nichts Erschreckendes mehr an sich. Er war kein Monster, nur ein etwas seltsamer Mann, der einen seltsamen Unfall gehabt hatte. Vielleicht war er mit einem Fluch belegt worden.
Sie trugen ihn ins Schlafzimmer, wo sich weitere Maschineninsekten aufhielten. Sie half Archer, den Fremden ins Bett zu heben. Archer erkundigte sich mit unsicherer Stimme, was der Mann sonst noch brauchte. »Zeit«, antwortete der Mann. »Und bitte erzählen Sie niemandem davon.«
»In Ordnung«, sagte Archer. Und Catherine nickte.
»Und Nahrung«, sagte der Mann. »Alles, was reich an Proteinen ist. Fleisch wäre gut.«
»Ich hole etwas«, bot Catherine ihre Hilfe an und war über sich selbst überrascht. »Genügt es morgen?«
»Das wäre schön.«
»Wer sind Sie eigentlich?«, wollte Archer nun wissen.
Der Mann lächelte, aber nur ganz knapp. Er weiß sicherlich, wie er aussieht, dachte Catherine. Wenn man fast völlig transparente Lippen hat, dann sollte man nicht lächeln. Es entsteht sonst der gegenteilige Effekt. »Mein Name ist Ben Collier«, sagte er.
»Ben«, wiederholte Archer. »Ben, ich möchte wissen, was Sie sind.«
»Ich bin ein Zeitreisender«, erwiderte Ben.
Sie ließen Ben Collier, den Zeitreisenden, mit seinen Maschinenkäfern allein. Als sie das Haus verließen, bemerkte Catherine, wie Archer zwei Gegenstände vom Küchentisch mitnahm: ein blaues Notizbuch mit Spiralheftung und eine Ausgabe der New York Times.
In Grandma Peggys Haus stürzte Archer sich auf die beiden Dokumente. Catherine kam sich leer, verloren vor. Was käme als Nächstes? Es gab keinerlei Verhaltensmuster für diese Situation. Sie räusperte sich. »Soll ich uns etwas zu essen zubereiten?«, fragte sie. Archer blickt kurz hoch und nickte.
Es war ihr niemals in den Sinn gekommen, dass Menschen, die gemeinsam eine solche Erfahrung gemacht hatten — Leute, die von fliegenden Untertassen entführt oder von Gespenstern besucht wurden —, sich auch mit derart prosaischen Dingen wie einem Abendbrot abgeben mussten. Eine Begegnung mit dem Jenseits, gefolgt von einer Portion Spaghetti carbonara, das war einfach unmöglich.
Nun mal langsam, dachte sie. Eins nach dem anderen. Sie stellte die Bratpfanne auf den Herd, fand eine Hühnerbrust, die sie zum Auftauen am Morgen herausgelegt hatte, holte eine zweite aus dem Tiefkühlfach und taute sie im Schnellverfahren im Mikrowellenherd auf — diese würde sie selbst essen. Catherine hielt wenig von Schnellgerichten, vor allem nicht für Gäste. Sie hielt auch nichts von gebratenem Huhn, aber es ging schnell und war gerade vorhanden.
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