Sie deckte den Tisch für zwei Personen. Das Esszimmer war geräumig und viktorianisch eingerichtet. Grandma Peggys Kuckucksuhr hing über einem Schrank mit blauem Wedgwoodgeschirr. Catherine setzte die Kaffeemaschine in Gang und servierte das Essen auf dem billigen Geschirr, das sie in einem Laden in Belltower gekauft hatte. Irgendwie erschien es ihr falsch und stillos, von Grandma Peggys Geschirr zu essen, wenn die alte Frau nicht im Haus war. Archer brachte seine beiden Souvenirs, das Notizbuch und die New York Times, an den Tisch. Aber er legte beides neben seinen Teller und machte ihr ein Kompliment über ihre Kochkünste.
Catherine kostete von ihrem Hühnerfleisch. Es schmeckte nicht besonders.
Sie ließ die Hand mit der Gabel sinken. »Nun, in was sind wir da hineingeraten?«
Archer brachte ein Lächeln zustande. »In etwas absolut Unerwartetes. Etwas, das wir nicht begreifen.«
»Sie klingen, als gefiele Ihnen die Geschichte.«
»Tatsächlich? Irgendwie ist es auch so. Es bestätigt in gewisser Weise einen Verdacht, den ich hatte.«
»Einen Verdacht?«
»Dass die Welt viel seltsamer ist, als sie sich dem Auge darbietet.«
Catherine dachte darüber nach. »Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen. Als ich achtzehn war, fing ich mit Jogging an. Am liebsten war ich immer an besonders dunklen Winterabenden unterwegs. Ich liebte all die erleuchteten Fenster in den Häusern. Es war ein seltsames Gefühl, der einzige Mensch draußen auf der Straße zu sein und seinen Atem als weiße Wolke zu sehen. Ich stellte mir dann immer vor, dass alles Mögliche passieren konnte, dass ich zum Beispiel um irgendeine Ecke bog und plötzlich in Oz stünde. Und niemand wüsste es — vor allem die Menschen, die hinter den erleuchteten Fenstern schlafwandelten, würden es nie erfahren. Ich wüsste, was für eine Welt es war. Sie nicht.«
»Genau«, pflichtete Archer ihr bei.
»Aber es gab kein Oz. Sondern nur eine andere dunkle Straße.«
»Bis heute.«
»Ist das Oz?«
»Es könnte durchaus sein.«
Sie nickte zustimmend. »Schon möglich. Aber wir können es wohl niemandem erzählen, nicht wahr?«
»Ich glaube nicht.«
»Und wir müssen morgen früh dorthin zurück.«
»Ja.«
»Wir können es nicht einfach vergessen und weggehen. Er braucht unsere Hilfe.«
»Ich denke schon.«
»Aber was ist er?«
»Na ja, ich glaube, er hat uns die Wahrheit gesagt, Catherine. Er ist wohl ein Zeitreisender.«
»Ist so etwas möglich?«
»Keine Ahnung. Vielleicht. Ich schließe schon lange keine Wetten mehr darauf ab, was möglich ist und was nicht.«
Sie deutete auf das Notizbuch und die Zeitung. »Was haben Sie gefunden?«
»Beides gehörte Tom Winter, zumindest nehme ich das an. Sehen Sie.«
Sie schob ihren Teller mit dem Hühnerfleisch beiseite und betrachtete die Zeitung.
Sonntag, 13. Mai 1962. Die abendliche Stadtausgabe.
U.S. KRIEGSSCHIFFE MIT 1800 MARINEINFANTERISTEN UNTERWEGS NACH INDOCHINA: LAOS VERHÄNGT AUSNAHMEZUSTAND… ÄRZTE VERPFLANZEN MENSCHLICHE HERZKLAPPE… KIRCHE IN SPANIEN UNTERSTÜTZT ARBEITER IM KAMPF UM STREIKRECHT
Die Titelseite war vergilbt — aber nur ein wenig.
»Sehen Sie mal in das Notizbuch«, forderte Archer sie auf.
Sie blätterte darin herum. Die Eintragungen füllten nur die ersten drei Seiten. Der Rest des Buchs war leer.
Dringende Fragen, lautete die Überschrift.
Du könntest das Ganze auf sich beruhen lassen, hieß es weiter.
Es ist gefährlich, und du könntest die Finger davon lassen.
Jeder andere Mensch auf der Erde wird Stunde für Stunde weiter in die Zukunft gestoßen, aber du brauchst das nicht mitzumachen. Du hast eine Hintertür gefunden.
Was war vor dreißig Jahren?, las Catherine. Sie haben die Bombe. Denk daran. Sie haben Umweltverschmutzung. Sie haben Rassismus, Ignoranz, Verbrechen, Hunger…
Hast du wirklich Angst vor der Zukunft?
Ich gehe ein einziges Mal zurück. Wenigstens, um mich umzusehen. Um wirklich dort gewesen zu sein. Wenigstens einmal.
Sie sah Doug Archer an. »Es ist eine Art Tagebuch.«
»Aber ein sehr kurzes.«
»Von Tom Winter?«
»Darauf würde ich wetten.«
»Was hat er getan?«
»So wie es aussieht, hat er sich ganz schön in die Scheiße geritten. Aber das bekommen wir schon noch heraus.«
Erst später kam Catherine die nächstliegende Frage in den Sinn: Vielleicht sind auch wir ganz schön in die Scheiße geraten.
Archer schlief auf dem Sofa. Am nächsten Morgen rief er in der Immobilienagentur an und erklärte, er sei krank. »Nicht so gut«, sagte er. »Das stimmt. Jawohl. Ich weiß. Ich weiß. Klar, das hoffe ich auch. Danke.«
Catherine sah ihn fragend an. »Bekommen Sie keine Schwierigkeiten?«
»Ich verliere wohl ein paar Provisionen.«
»Geht das denn?«
»Ich denke schon. Ich hab auch noch andere Eisen im Feuer.« Er grinste sie an — ein bisschen zu wild für Catherines Geschmack. »Hey, hier finden gerade Wunder statt. Sind Sie deswegen denn überhaupt nicht aufgeregt?«
Sie lächelte schuldbewusst. »Ich glaube schon.«
Dann fuhren sie zum Safeway-Supermarkt und besorgten fünf tiefgefrorene T-Bone-Steaks für Ben, den Zeitreisenden.
Archer suchte eine Woche lang das Haus jeden Tag auf, manchmal zusammen mit Catherine und manchmal ohne sie. Er brachte Nahrung, die der Zeitreisende niemals in seiner Gegenwart zu sich nahm; vielleicht absorbierten die Maschinenkäfer sie und führten sie ihm auf direkterem Weg zu. Er wollte die Einzelheiten gar nicht wissen.
Jeden Tag wechselte er einige Worte mit Ben.
Es wurde zunehmend einfacher, ihn als »Ben« zu sehen, als etwas Menschliches und nichts Monströses. Die Bettlaken verhüllten seine Deformierungen zum größten Teil, und die weiße, schuppige Haube, wo seine Schädeldecke eigentlich hätte sein müssen, hatte am dritten Tag so viel Pigmente gebildet, dass man sie als menschliche Haut bezeichnen konnte. Archer hatte zuerst vor den Maschinenkäfern überall im Haus Angst gehabt, doch sie kamen ihm niemals zu nahe und stellten auch keine Bedrohung dar. Daher fing Archer an, Fragen zu stellen.
»Wie lange waren Sie in dem Schuppen?«
»Etwa zehn Jahre.«
»Waren Sie die ganze Zeit in diesem verletzten Zustand?«
»Die meiste Zeit war ich tot.«
»Klinisch tot.«
Ben lächelte. »Mindestens.«
»Was ist mit Ihnen passiert?«
»Ich wurde ermordet.«
»Was hat Sie gerettet?«
»Sie waren es.« Die Maschinenkäfer.
Oder er erkundigte sich nach Tom Winter. »Was ist mit ihm geschehen?«
»Er ist irgendwo hingegangen, wo er nicht hätte hingehen sollen.«
Das klang irgendwie seltsam. »Hat er eine Zeitreise unternommen?«
»Ja.«
»Lebt er noch?«
»Das weiß ich nicht.«
Kurze Fragen, kurze Antworten. Archer beließ es dabei. Er versuchte, ein Gefühl dafür zu bekommen, wer diese Person in Wirklichkeit war — wie gefährlich oder wie vertrauenswürdig. Und er spürte, dass Ben ähnliche Urteile über ihn fällte, vielleicht auf eine etwas genauere oder sicherere Art und Weise.
Catherine schien darüber nicht sehr überrascht zu sein. Sie ließ Archer gelegentlich in ihrem Wohnzimmer schlafen. Sie nahmen gemeinsam das Abendessen und das Frühstück ein, unterhielten sich manchmal über diese seltsamen Vorgänge und manchmal nicht. Ebenso wie Archer schaute sie jeden Tag im Winter-Haus nach. »Wir sind wie Seelsorger«, sagte Archer. »Wir besuchen die Kranken.« Und sie entgegnete: »So kommt es einem vor, nicht wahr? Irgendwie seltsam.«
Das war es, dachte Archer. Sogar sehr seltsam. Und dass es so seltsam war, stimmte ihn zufrieden. Er erinnerte sich, dass er mit Tom Winter darüber gesprochen hatte, über seine Überzeugung, dass eines Tages der Himmel aufreißen und Frösche und Ringelblumen auf Belltower herabregnen würden. (So ähnlich hatte er sich ausgedrückt.) Und nun war das auf eine gewisse Art und Weise tatsächlich geschehen, und es war ein Geheimnis, das er nur mit Catherine Simmons teilte und vielleicht auch mit Tom Winter, wohin Tom auch verschwunden sein mochte. Er hatte den absoluten Beweis, dass die normale Welt überhaupt nicht normal war… dass Belltower eine Art Massenhalluzination war, eine Normalität vorgaukelnde Bühne, die über einer wilden, fremdartigen Landschaft errichtet worden war.
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