Sie zündete sich eine Zigarette an. Tom verfolgte, wie der Rauch vor ihren Augen hochstieg. Sie hatte eine wichtige Frage gestellt und wartete nun auf seine Antwort.
Er empfand plötzlich eine schreckliche Angst, dass ihm keine einfiel, dass er nichts vorbringen könnte, um sich zu rechtfertigen.
Er sagte: »Aber wenn du kein Leben hättest… wenn dein Leben mies und völlig verkorkst wäre…«
»War es denn so?«
»Ja, Joyce, genau das war es.«
»Neunzehnhundertzweiundsechzig als Alternative zum Selbstmord? Das ist eine recht seltsame Vorstellung, Tom.«
»Es ist auch ein seltsames Universum. So weit das Plädoyer der Verteidigung.«
Mirabelle erschien mit den Brötchen und dem Kaffee. Joyce schob ihren Teller beiseite, als sei er etwas völlig Unwichtiges oder nur eine Ablenkung. Sie sagte: »Okay, aber hör dir an, was mich stört.«
Tom nickte.
»Damals in Minneapolis ging ich mit einem Typen namens Ray. Ray redete die ganze Zeit vom Zweiten Weltkrieg. Wir gingen ins Kino, und anschließend saßen wir in irgendeinem billigen Restaurant, während er mir von Guadalcanal oder von der Schlacht um Midway erzählte. Und zwar alles, jedes kleine Detail — ich kann dir von Midway mehr erzählen, als du jemals wissen willst. Nach einer Weile wurde es richtig seltsam. Eines Tages fragte ich ihn, wie alt er gewesen war, als man die Bombe auf Hiroshima warf. ›Ich war zwölf, fast dreizehn‹, antwortete Ray. Ich fragte ihn weiter, woher er all die Dinge über den Krieg wisse, und er sagte, er habe alles aus Büchern und aus Zeitungsartikeln. Er war niemals in der Armee. Er war untauglich wegen seiner Allergien. Aber das sei ganz okay, sagte er, weil heutzutage ja sowieso nichts passiere, nichts wie damals im richtigen Krieg, nicht einmal Korea sei so gewesen. Er redete davon, wie toll es gewesen sein musste, dass junge Männer ihr Leben für ein Anliegen aufs Spiel setzten, das ihnen wirklich wichtig war. Ich fragte ihn, was er denn getan hätte, wenn er an der Invasion in Italien hätte teilnehmen müssen. Er strahlte mich an und sagte: ›Mann, Joyce, ich hätte alle Nazis umgebracht und mit allen Frauen geschlafen!‹«
Sie stieß eine dichte Rauchwolke aus. »Mein Onkel war in Italien. Er hat nie darüber geredet. Immer wenn ich ihn nach dem Krieg fragte, bekam er einen abweisenden Gesichtsausdruck. Er starrte einen an, bis man den Mund hielt. Daher wusste ich, dass das alles im Grunde großer Unfug war. Es machte mich rasend. Wenn Ray unbedingt wie ein Held leben wollte, weshalb tat er es nicht einfach? Es war nicht einmal das, was man Nostalgie nennt. Er wollte irgendeine magische Veränderung, er wollte in einer Welt leben, in der alles überlebensgroß war. Ich sagte: ›Weshalb gehst du denn nicht nach Italien? Ich gebe zu, dort herrscht gerade kein Krieg. Aber du könntest am Strand leben, dich mit den Fischern volllaufen lassen und dich in irgendein hübsches Bauernmädchen verlieben.‹ Er schüttelte den Kopf. Das sei nicht dasselbe. Die Leute seien anders als früher.«
»Ist die Geschichte wahr?«, wollte Tom wissen.
»Im Wesentlichen, ja.«
»Und die Moral?«
»Ich dachte gestern an Ray. Ich dachte, was ist, wenn er nun einen Tunnel findet? Und wenn dieser Tunnel ins Jahr 1940 zurückführt?«
»Er würde in den Krieg ziehen«, sagte Tom. »Es wäre nicht das, was er erwartet hat, und er hätte Angst und wäre unglücklich.«
»Schon möglich. Aber vielleicht würde es ihm auch gefallen, und das fände ich viel beängstigender, oder nicht? Er würde mit einem Dauerständer herumlaufen, denn es wäre seine Geschichte, und er wüsste, wie sie verläuft. Er würde mit all den italienischen Mädchen schlafen, aber es wäre makaber, schrecklich, denn in Gedanken würde er mit der Geschichte schlafen. Er würde es mit Geistern treiben. Und das finde ich ziemlich entsetzlich.«
Tom stellte fest, dass sein Mund plötzlich trocken war. »Du denkst, dass ich das tue?«
Joyce senkte den Blick. »Ich muss zugeben, dass mir diese Möglichkeit in den Sinn gekommen ist.«
Er sagte, er werde sie nach ihrem Auftritt bei Mario’s abholen. Allein empfand Tom die Stadt um sich herum wie einen Kopfschmerz. Er könnte zu Lindner’s gehen, doch er bezweifelte, dass er sich auf ein Radiochassis konzentrieren konnte, ohne einzuschlafen. Stattdessen fuhr er mit einem Autobus in die Innenstadt und wanderte eine Zeit lang auf der Fifth Avenue herum. Aus einem verrückten Impuls heraus folgte er einer Touristengruppe zur Aussichtsplattform im hundertzweiten Stockwerk des Empire State Building, wo er in einer durch Schlafmangel bedingten Halbtrance am Fenster stand und versuchte, sich die Namen der Gebäude ins Gedächtnis zu rufen, die er erkannte — das Chrysler Building, Welfare Island — und diejenigen unterzubringen, die noch nicht existierten, zum Beispiel das World Trade Center, das noch ein Erdwall am Hudson River war. Das Gebäude, in dem er sich befand, war dreißig Jahre alt, etwa halb so alt wie im Jahr 1989 und um so vieles seinem Art-deco-Glanz näher, erkennbar am feineren Schimmer auf seinem belgischen Marmor und seinen Kalksteinfassaden. Die Touristen waren Ehepaare mit Kindern, mittleren Alters oder jung. Die Männer trugen braune Anzüge und adrette weiße Hemden, die am Hals offen waren, schossen Fotos mit Kodak-Brownies und verteilten Zehncentmünzen an ihre Kinder, die sich um die unförmigen Ferngläser drängten und so taten, als seien es Geschütze, mit denen sie Manhattan im Tiefflug angriffen. Diese Leute streiften Tom mit gelegentlichen Seitenblicken, diesen unrasierten Mann in weitem Sweatshirt und Jeans. Wahrscheinlich ein Beatnik oder irgendein anderer Vertreter des New Yorker Menschenzoos. Tom betrachtete die Stadt durch drahtverstärkte Fenster.
Die Stadt war grau, verraucht, grenzenlos, alt, fremd. Die Stadt war dreißig Jahre zu jung. Die Stadt war ein Fossil in Bernstein, wiederauferstanden, und ihr Pflaster und ihre Vordächer und Oldsmobiles waren mit rätselhaftem Leben erfüllt. Es war eine Stadt der Geister.
Geister wie Joyce.
Er schirmte die Augen gegen die grelle Nachmittagssonne ab. Irgendwo in diesem Gewirr aus Stein und schwarzen Schatten hatte er sich verliebt. Das war eine klare Erkenntnis und nahm dem, was Joyce gesagt hatte, ein wenig die Schärfe. Er schlief nicht mit Gespenstern. Aber er hatte sich vielleicht in eines verliebt.
Und das war vielleicht ein Fehler. Er versuchte sich daran zu erinnern, weshalb er hierhergekommen war und was er erwartet hatte. Einen Rummelplatz: Vielleicht hatte sie recht. Die Sechzigerjahre — dieses legendäre Jahrzehnt — war zu Ende, als er gerade elf gewesen war. Er war in dem Glauben aufgewachsen, etwas Wichtiges versäumt zu haben, obgleich er sich nie ganz sicher war, was — es kam darauf an, mit wem man sich darüber unterhielt. Eine wunderbare oder eine schreckliche Zeit. Als der Vietnamkrieg für oder gegen die Freiheit geführt wurde. Als Drogen etwas Gutes oder etwas Schlechtes waren. Als Sex niemals tödlich war. Ein Jahrzehnt, in dem die »Jugend« wichtig war. Als Tom heranwuchs, hatte das Wort viel von seinem Glanz verloren.
Vielleicht hatte er erwartet, all diese Wunder gebündelt anzutreffen, serviert mit einer Beilage aus Unverwundbarkeit und privatem Wissen. Ein unendliches Geisterdrama, in dem er zugleich Publikum und Darsteller war.
Aber Joyce hatte das unmöglich gemacht.
Er war hierhergekommen mit dem Wunsch nach Liebe — nach irgendeinem erlösenden Segen —, aber Liebe war auf dem Rummelplatz unmöglich. Liebe war eine andere Kategorie. Liebe beinhaltete Verlust und Zeit und Verletzbarkeit. Liebe machte all die Kulissen und Bühnenbilder real: realer Krieg, realer Tod, reale Hoffnungen, reale Wünsche.
Weil er sie liebte, hatte er begonnen, die Welt genauso zu sehen wie sie. Nicht als buntes Ansichtskartenfoto, sondern solide, greifbar, befrachtet mit anderen Bedeutungen.
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