Die Gestalt trug eine zerlumpte und altmodische Uniform. Das Gesicht sah aus wie seines. Es war sein Doppelgänger: der Geist, der Soldat, der Wachsoldat.
* * *
Nicholas Law, der mit seinen zwölf Jahren ganz versessen war, auch den letzten Rest der Sommersonne auszunutzen, entschuldigte sich und sauste zur Tür hinaus. Das Fliegengitter rasselte hinter ihm ins Schloss. Durchs Fenster konnte Guilford ihn gerade noch sehen, nicht mehr als eine gestreifte Strickjacke, die vor dem Himmel, der Landspitze und dem abendblauen Meer bergab fegte.
Abby kam aus der Küche, wo sie den Nachtisch aus dem Kühlschrank genommen hatte. Etwas mit Eiscreme. Eiscreme aus dem Laden, für Guilford immer noch etwas gänzlich Neues.
Sie hielt inne, als sie den leeren Platz sah. »Er konnte wohl nicht auf den Nachtisch warten?«
»Sieht so aus.« Baseball bei Abendlicht, dachte Guilford. Der große Rasenplatz vor der Fayette-Schule. Er empfand plötzlich so etwas wie Heimweh.
»Hast du auch keine Lust mehr?«
Sie trug zwei kleine Teller. »Ich probier mal«, sagte er.
Sie setzte sich vis-à-vis, ihr gutmütiges Gesicht bekam einen skeptischen Zug. »Du hast abgenommen«, sagte sie.
»Ein bisschen. Muss nichts heißen.«
»Du bist zu oft allein unterwegs.« Sie kostete von der Eiscreme. Guilford bemerkte vereinzelte silbrige Fäden an den Schläfen. »Heute war ein Mann hier.«
»Aha?«
»Ob das hier das Haus von Guilford Law wär, wollte er wissen. Ich habe ja gesagt, und er wollte wissen, ob du der Photograph mit dem Laden in der Spring Street wärst. Ich habe ja gesagt, und dass er dich dort erreichen könnte.« Ihr Löffel schwebte über dem Dessert. »War das richtig?«
»Goldrichtig.«
»War er im Laden?«
»Vielleicht. Wie sah der Gentleman aus?«
»Dunkel. Er hat so merkwürdig geguckt.«
»Merkwürdig? Wie meinst du das?«
»Einfach nur merkwürdig.«
Die Geschichte mit dem Fremden an der Tür und Abby, die ihm aufgemacht hatte, warf ihn aus der Bahn. »Mach dir keine Gedanken.«
»Ich mach mir keine Gedanken«, sagte Abby bedächtig. »Es sei denn, du machst dir welche.«
Lügen wollte er nicht. Es war schwer, ihr etwas vorzumachen. Also schüttelte er nur den Kopf. Sie wollte wissen, was nicht stimmte, und ihm fehlten die Worte.
Er hatte nie darüber gesprochen… zu niemandem. Außer in diesem lange zurückliegenden Brief an Caroline.
Immerhin war der Mann an der Haustür nicht sein Doppelgänger. Man vergisst, dachte er, nach so vielen Jahren. Wenn eine Erinnerung so abwegig ist, so aus dem Rahmen des rauen Alltags fällt, dann kommt sie einem einfach abhanden… oder sie tickt wie die Erbse in einer Trillerpfeife unterschwellig vor sich hin. Bis man mit der Nase darauf gestoßen wird. Dann kommt sie wieder ans Licht der Sonne, frisch wie ein alter Traum aus dem Kühlschrank, ausgepackt und glitzernd.
Bis jetzt waren es nur flüchtige Eindrücke gewesen -Vorboten vielleicht; Omen; Ausreißer. Vielleicht hatte es nichts zu bedeuten, dieses jugendliche Gesicht, das ihn in einer Menschenmenge verfolgte, um plötzlich nicht mehr da zu sein, das wie Treibgut aus abenddunklen Gassen starrte. Er wollte, dass es nichts zu bedeuten hatte. Er befürchtete das Gegenteil.
Abby aß den Nachtisch zu Ende und räumte ab. »Heute kam Post aus New York«, sagte sie. »Sie liegt in deinem Sessel.«
Er war froh, von seinen düsteren Gedanken erlöst zu werden. Er ging ins ›Wohnzimmer‹, wie Abby das lange Südende des einfachen, rechteckigen Hauses nannte, das Guilford vor gut zehn Jahren gebaut hatte. Er hatte die Mauern hochgezogen, die Zimmermannsarbeiten gemacht und das Fundament gegossen; ein ansässiger Unternehmer hatte das Haus verputzt und mit Schindeln gedeckt. In warmen Gegenden waren die Häuser unkomplizierter. Abby und Nicholas hatten es zum Leben erweckt, mit gerahmten Bildern und Tischdecken und Sesselschonern, unter den Möbeln lauerten Gummibälle und Holzspielzeug.
Die Post belief sich auf etliche ältere Ausgaben von Astounding und einem Stapel New Yorker Zeitungen. Die Zeitungen lasen sich deprimierend: Einzelheiten über den Krieg mit Japan, bessere Berichte als die von den Nachrichtenagenturen im Fayetteville Herald, aber älter eben.
Guilford widmete sich zuerst den Magazinen. Seine Vorliebe fürs Phantastische war in den Jahren, nachdem er Caroline und Lily verloren hatte, abgeflaut, doch die jüngeren Magazine hatten ihn wieder heimgeholt. Riesige Luftschiffe, Reisen zu den Planeten, außerirdisches Leben: Das alles kam ihm heute glaubwürdiger und zugleich unglaubwürdiger vor als früher. Wie auch immer, die Geschichten schlugen ihn in ihren Bann.
Nur heute Abend nicht. Heute Abend las er ganze Seiten, ohne zu wissen, was er gelesen hatte. Schließlich starrte er nur noch auf die grellbunten und unsäglich vielversprechenden Umschlagbilder…
Er war im Sessel eingenickt, als er das laute Gebimmel hörte, mit dem sich der Löschzug seinen Weg von der Feuerwache oben auf dem Lantern Hill in die Stadt bahnte.
Dann klingelte das Telephon.
Telephone waren noch keine Selbstverständlichkeit für Fayetteville, und er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, eines im Haus zu haben, obwohl er schon über ein Jahr lang eines in seinem Laden benutzte. Das rasselnde Klingeln schrappte wie ein Fischmesser an seinem Rückgrat entlang.
Die Stimme am anderen Ende gehörte Tim Mackelroy, seinem Assistenten. Komm schnell, sagte Tim, Jesus, es ist furchtbar, aber komm schnell, der Laden brennt ab.
Guilford hatte außerhalb der Stadt gebaut, eine halbe Meile von der nächsten gepflasterten Straße entfernt. Von der Haustür aus konnte er Fayetteville sehen, ein fernes Gitter aus Straßen und Häusern, und eine Rauchfahne, die wahrscheinlich aus der Spring Street stieg.
Er müsse sich überzeugen, sagte er zu Abby. Sie solle nicht aufbleiben und auf ihn warten. Er würde anrufen, sobald er Genaues wisse. Bis dahin solle sie sich keine unnützen Sorgen machen; schlimmstenfalls sei das Geschäft bei der Oro Delta versichert. Sie würden es wiederaufbauen.
Abby sagte nichts, küsste ihn nur und sah ihm vom Fenster aus nach, wie er mit dem zerbeulten Ford in einer wallenden Staubwolke verschwand.
Es war ein staubiger Monat gewesen. Der Himmel war grellbunt und im Westen berührte die Sonne jeden Moment das Meer.
* * *
Guilford überholte Nick, der noch immer in Richtung Stadt radelte, hielt kurz an, um Nicks Rad hinten in den Wagen zu werfen und vorne für den Jungen Platz zu machen.
Nick hörte mit ernster Miene zu, aber Nicks Miene war oft so ernst. Große Augen, schmales Gesicht. Ihm standen immer kleine Falten zwischen den Brauen. Nick kannte kein Lächeln, nur verschiedene Arten, die Stirn zu krausen. Selbst wenn er am glücklichsten war — spielte, las, an seinen Modellen werkelte —, runzelte er konzentriert die Stirn und presste die Lippen zusammen.
»Wie konnte das Studio denn Feuer fangen?«, fragte Nick.
Guilford sagte, er wisse es nicht. Es sei noch zu früh, um Genaueres zu sagen. Erst müsse er sich vergewissern, dass Tim Mackelroy wohlauf sei, dann könne man immer noch retten, was zu retten sei.
Der herrenlose Hang wurde von terrassierten Feldern abgelöst. Guilford bog auf die geteerte Landstraße ein. Der Verkehr war spärlich, nur ein paar Autos, ein paar Fuhrwerke aus der Amish-Siedlung weiter oben in Richtung Palaepolis und zwei Lkws, die leer von den Kornspeichern kamen. Follette Road hieß die Hauptstraße von Fayetteville, und sowie er am Lebensmittel- und Getreidespeicher um die Ecke bog, gewahrte er den Rauch. Ein Löschfahrzeug versperrte die Kreuzung Follette und Spring Street.
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