Caroline und Lily fuhren mit ihm zum Hafen, wo die Gezeiten an der Argus zerrten. Kühle Nebelschwaden rankten sich um den von Rostpocken befallenen Rumpf.
Guilford umarmte Caroline, er fand keine Worte, er kam sich vor wie ein Grobian; dann hangelte Lily sich in seine Arme, drückte ihre weiche Wange an die seine und sagte: »Komm bald wieder.«
Guilford versprach es.
Lily glaubte ihm.
Dann ging er die Gangway hinauf, drehte sich an der Reling um und winkte zum Abschied, aber Frau und Tochter waren bereits untergegangen in der Menschenmenge, die sich unten am Pier drängte. So rasch geht das, dachte Guilford. So rasch.
* * *
Die Argus überquerte den Kanal bei dichtem Nebel. Guilford grübelte unter Deck, bis die Sonne durchbrach und John Sullivan von ihm verlangte, hoch zu kommen, um den Kontinent bei Morgenlicht zu sehen.
Was sich seinen Augen bot, war dichtes, grünes Sumpfland, in dem ein Westwind fächelte — das salzige Marschland des weiten Rhein-Deltas. Die Stromatolithen [23] Kalkausscheidungen mariner Algen.
nahmen sich aus wie unirdische Monumente und die Flötenbäume hatten sich überall dort angesiedelt, wo der Schlick tief genug war, um ihren spinnenartigen Wurzeln Halt zu bieten. Das Postschiff folgte einer seichten aber pflanzenfreien Fahrrinne — langsam, weil die Lotung nur grob war und Stürme den Treibsand nicht selten verlagerten. Sie dampften auf eine dichtere, grünere Ferne zu. Jeffersonville war eine blasse Rauchfahne am flachen, grünen Horizont, dann ein Fleck, dann eine schmutzigbraune Ansammlung von Hütten zwischen Schilfrohrbuckeln oder auf Pfählen, wenn der Grund es erlaubte, und überall primitive Anlegestellen und kleine Boote und der Gestank nach Salz, Fisch, Abfall und Kloake. Caroline fand London primitiv; Guilford war froh, dass sie Jeffersonville nicht zu Gesicht bekam. Der Ort wirkte wie eine Wamtafel: Hier endet die Zivilisation. Hier beginnt die Anarchie der Natur.
Es gab eine Unmenge Fischerboote, Kanus und aus darwinischem Holz zusammengeschusterte Fahrzeuge, die wie Flöße aussahen, und alle klumpten sich an den mit Netzen drapierten Anlegestellen. Es gab nur ein Fahrzeug, das so groß war wie die Argus: Ein amerikanisches Kanonenboot lag mit wehender Flagge vor Anker. »Damit fahren wir den Fluss hinauf«, sagte Sullivan, der neben Guilford an der Reling stand. »Hier bleiben wir nicht lange. Finch wird der Navy seine Aufwartung machen, während wir uns nach einem Führer umsehen.«
»Wir?«, fragte Guilford.
»Sie und ich. Danach können Sie ihre Kamera zusammenbauen und eine Gruppenaufnahme am Pier machen. Verladung in Jeffersonville. Die Photographie wird Emotionen wecken.« Sullivan klopfte ihm auf die Schulter. »Kopf hoch, Mr. Law. Das ist die richtige neue Welt, und Sie stehen kurz davor, sie zu betreten.«
Doch hier im Marschland musste man seine Schritte mit Bedacht wählen. Man hielt sich an die Plankenwege oder lief Gefahr, verschlungen zu werden. Guilford fragte sich, wie viel von Darwinia sich so ausnahm — blauer Himmel, fächelnder Wind, die stille Bedrohung.
* * *
Sullivan ließ Finch wissen, er und Guilford seien unterwegs, um einen Führer anzuheuern. Sobald die Piers außer Sicht waren, verborgen hinter Fischerhütten und einem hohen Gehölz aus Moscheebäumen, verlor Guilford jede Orientierung. Doch Sullivan schien sich auszukennen. 1918 sei er hiergewesen, erklärte er, um Tierarten des Marschlandes zu katalogisieren. »Ich kenne die Stadt, auch wenn sie jetzt größer ist, und ich kenne ein paar alte Hasen hier.«
Die Leute, an denen sie vorbeikamen, sahen grobschlächtig und gefährlich aus. Nicht lange nach dem Wunder hatte die Regierung versucht, durch so genannte Homestead grants [24] Urkunde über die Zuteilung von Land aus öffentlichem Besitz an Siedler.
und kostenlose Schiffspassagen Freiwillige für die Besiedlung von Darwinia zu gewinnen; das Leben in Amerika war nicht eben leicht und doch ging nur ein besonderer Menschenschlag auf das Angebot ein. Darunter etliche, die sich so der Strafverfolgung entzogen.
Sie waren Fischer und Fallensteller und schlugen sich mehr oder weniger ehrlich durchs Leben. So wie sie aussahen, mussten Süßwasser und Seife ein rares Gut sein. Männer wie Frauen trugen grobe Kleidung und langes, verfilztes Haar. Und trotzdem waren unter diesen schäbigen Individuen nicht wenige, die Sullivan und Guilford mit einem verhaltenen Grinsen begegneten — die Verachtung des Eingeborenen für den Touristen.
»Wir besuchen einen Mann namens Tom Compton«, sagte Sullivan. »Der beste Spurenleser in Jeffersonville, vorausgesetzt er lebt noch und ist nicht draußen im Busch.«
Tom Compton wohnte in einer Holzhütte abseits des Wassers. Sullivan klopfte nicht an, sondern platzte einfach durch die halb offene Tür — darwinische Gepflogenheit vielleicht. Guilford folgte ihm vorsichtig. Nachdem sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, entpuppte sich das Innere der Hütte als spartanisch und sauber, auf dem Bretterboden lag ein Baumwollläufer, an den Wänden hingen Geräte zum Fischen und Jagen. Tom Compton saß seelenruhig in einer Ecke des einzigen Raums, direkt neben einem Tisch, ein großer Mann mit einem gewaltigen, verfilzten Bart. Die dunkle Haut wies ihn als Mischling aus. Um den Hals trug er eine Kette aus Klauen. Das Hemd war aus einer derben, einheimischen Faser gewebt, die Hose schien aus konventionellem Köper, halb verdeckt durch hohe Wasserstiefel. Er blinzelte die Besucher nicht gerade begeistert an und nahm eine langstielige Pfeife vom Tisch.
»Bisschen früh dafür, oder?«, meinte Sullivan.
Tom Compton riss ein hölzernes Zündholz an und hielt die Flamme über den Pfeifenkopf. »Nicht, wenn du mir unter die Augen kommst.«
»Du weißt, warum ich hier bin, Tom?«
»Hab es läuten hören.«
»Wir wollen ins Landesinnere.«
»Interessiert mich nicht.«
»Ich hätte dich gerne dabei.«
»Geht nicht.«
»Wir überqueren die Alpen.«
»Egal.« Er reichte Sullivan die Pfeife, der sie ihm aus der Hand nahm und den Rauch inhalierte. Kein Tabak, dachte Guilford. Sullivan reichte die Pfeife weiter und Guilford war bestürzt. Durfte er freundlich ablehnen oder war das wie bei einem Häuptlingstreffen der Cherokees, ein Zug aus der Pfeife statt eines Händedrucks?
Tom Compton lachte. Sullivan sagte: »Das sind die getrockneten Blätter einer Flusspflanze. Ein bisschen berauschend, aber kein Opium.«
Guilford nahm ihm die knorrige Bruyere aus der Hand. Der Rauch schmeckte so, wie ein Rübenkeller riecht. Das meiste fiel einem Hustenanfall zum Opfer.
»Neuling«, sagte Tom Compton. »Er kennt das Land nicht.«
»Er wird es kennen lernen.«
»Das tun sie alle«, sagte der Grenzbewohner. »Jeder lernt es kennen. Falls ihn das Land nicht vorher umbringt.«
* * *
Der Rauch aus Tom Comptons Pfeife bewirkte, dass Guilford sich leichter und unbeschwerter fühlte. Das Geschehen verlangsamte sich zu einem Kriechen oder schnellte ohne Zäsur voran. Als er in seine Koje auf der Argus kletterte, erinnerte er sich an den Tag nur bruchstückhaft.
Er war mit Dr. Sullivan und Tom Compton in einer Kneipe an den Piers gewesen, wo braunes Bier in Krügen serviert wurde, die man aus getrockneten Flötenriedstämmen geschnitten hatte. Die Krüge waren porös und schwitzten das Bier aus, wenn man es zu lange stehen ließ. Das förderte eine Art zu trinken, die klarem Denken nicht zuträglich war. Es hatte auch zu essen gegeben, einen darwinischen Fisch, der sich auf dem Teller wie ein schlaffer, schwarzer Stechrochen ausgenommen hatte. Er schmeckte nach Salz und Schlamm; Guilford hatte nur wenig gegessen.
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