Gewiß, die Erzählungen über ihn, Gilgamesch, hatten einen wahren Kern, besonders die Teile über ihn und Enkidu, aber der Dichter hatte die Geschichte mit reichlich hochgestochenen, zusätzlichen, künstlerisch unnötigen, dummen Schnörkeln hochgewürzt, wie das die Poeten eben stets so tun, und auf jeden Fall wurde man es doch sehr leid zu sehen, daß alle und jeder einem das eigene lange und vielfältige Leben zu den stets gleichen zwölf Hauptstücken mit stets den gleichen kleinen Phrasen zusammenköchelte. Es war sogar dahin gekommen, daß Gilgamesch sich dabei ertappte, wie er selbst aus dem zentralen Teil des Gilgamesch-Epos zitierte, dem über seine Suche nach dem Ewigen Leben — nun, dieser Gesang entfernte sich nicht allzu weit von der Wahrheit — obwohl sie viele Einzelheiten durch kleine ›köstliche‹ Erfindungseinfälle verkorkst hatten —, indem er sich anderen vorstellte: »Ich bin der Mann, dem alle Dinge kundgetan wurden… die Wahrheiten über Leben und Tod…« Direkt aus dem Munde des Dichters, diese Zeilen. Es war ärgerlich. Es war langweilig. Grimmig stieß er sein Messer unter die Haut des toten Ungeheuers und machte sich daran, die Decke abzulösen, während die beiden kleinen Männer hinter seinem Rücken weiter erstaunt miteinander brabbelten.
Seltsame Empfindungen durchströmten Robert Howards Seele, und sie waren ihm ganz und gar nicht angenehm. Er konnte sich verzeihen, daß er hingerissen einen Augenblick lang geglaubt hatte, dieser Gilgamesch sei sein Conan. Da war nur sein Künstlertemperament am Werk und hatte ihn zu einem kurzen fieberhaften Begeisterungsanfall hochgepeitscht. Sich so plötzlich einem gewaltigen nackten muskulösen Mannsriesen mit einem Lendenschurz gegenüber zu sehen, der mit einem kleinen Bronzedolch auf ein gräßliches Ungeheuer loshackt, und sich dann einzubilden, daß dies bestimmt der gewaltige cimmerische Held sein müsse — nun, das war doch wohl nur zu verzeihlich. Hier in der Nachwelt begriff man sehr rasch, daß einem fast jeder über den Weg laufen konnte. Es konnte passieren, daß man mit Lord Byron würfelte oder mit Menelaos eine Kanne Würzwein teilte, oder daß man mit Platon über Nietzsches Ideen diskutierte, der gleich daneben stand und säuerliche Grimassen schneidend auf seinem Bart herumkaute… nach einiger Zeit nahm man das meiste dann mehr oder weniger als selbstverständlich hin.
Weshalb also sollte er nicht glauben, daß dieser Kerl Conan sei? Es spielte doch keine Rolle, daß Conan eine andere Augenfarbe gehabt hatte. Das war doch nebensächlich. In allen wichtigen Punkten sah er aus wie Conan. Er besaß die körperliche Größe und Kraft Conans. Und königlich war er nicht nur der Gestalt nach. Er schien auch Conans kühle Intelligenz und seine psychische Komplexität, seinen königlichen Mut und seine Unbezähmbarkeit zu besitzen.
Das Problem aber war, daß Conan, der wundersame cimmerische Kriegsheld aus dem Jahre 19000 vor der Zeitrechnung, niemals irgendwo gelebt hatte, außer in Howards eigener Vorstellungswelt. Und in der Nachwelt gab es eben keine fiktiven Charaktere. Sofern einer nicht in dieser anderen Welt der ersten Fleischwerdung gelebt hatte, wirklich gelebt, konnte er unmöglich hier wieder leben. Man konnte hier möglicherweise Richard Wagner begegnen, aber es war ziemlich unwahrscheinlich, daß man Siegfried traf. Theseus hielt sich ebenfalls hier irgendwo auf, nicht aber der Minotauros. Wilhelm der Eroberer, ja — aber kein Wilhelm Tell.
Das war auch ganz in Ordnung, sagte sich Howard. Seine kleine Wunschvorstellung, daß er hier in der Nachwelt seinem Conan begegnet sei, war nichts weiter als ein Anfall von degoutanter Eigenliebe; es wäre besser für ihn, das abzustreifen. Aber dem echten authentischen Gilgamesch zu begegnen — ach, wie viel erregender war das! Einem echten sumerischen König — einem realen Titanen aus der Morgendämmerung der Menschheitsgeschichte, nicht eine aus den Fingern gesogene Gestalt aus Pappe und schweißigen, keuchenden Wunscherfüllungsträumen; ein Sterblicher aus Fleisch und Blut, der voller Lebenslust gewesen war und große Kämpfe gekämpft hatte, der Aug’ in Auge mit den uralten Göttern wandelte und sich gegen die Unausweichlichkeit des Todes zur Wehr setzte, und der in seinem Tod die Unsterblichkeit des mythischen Archetypus erlangt hatte… Ja, das war wirklich jemand, den es sich lohnte kennenzulernen! Und Howard mußte eingestehen, daß er aus einem Gespräch mit Conan nicht mehr profitieren würde, als wenn er sein eigenes Spiegelbild befragen würde. Oder aber eine Begegnung mit dem ›realen‹ Conan, sofern denn so etwas überhaupt irgendwie möglich wäre, würde ihn bestimmt in schrecklichen seelischen Zwiespalt und Verwirrung stürzen, aus denen er sich nicht wieder würde befreien können.
Nein, dachte Howard, es ist schon besser, wenn dieser Mann Gilgamesch wäre, nicht Conan, um Himmels willen! Also fand er sich damit ab.
Aber diese andere Geschichte — dieses plötzliche bestürzende zwanghafte Bedürfnis, vor dem Riesen niederzuknien, von seinen Armen emporgerissen und in einer glühenden Umarmung an seine Brust gedrückt zu werden…
Was sollte denn das? Woher kam das denn? Beim flammenden Herzen Ahrimans, was konnte das bedeuten?
Er erinnerte sich an einen Tag aus seinem früheren Leben, an dem er zum Cisco-Damm gefahren war und zugesehen hatte, wie die Bauarbeiter sich auszogen und hineintauchten: Gutgebaute Männer, selbstsicher, anmutig, im Einklang mit ihrem Körper. Einige Zeitlang hatte er ihnen zugesehen und ihre körperliche Vollkommenheit bewundert. Sie hatten nackte griechische Statuen sein können, die zum Leben erwacht waren, ein ganzer Trupp von kräftigen saftstrotzenden Apolls und Zeusen. Und dann, als er hörte, wie sie sich ihre üblen zotigen Witze zubrüllten, wurde er zornig und sah in ihnen nur denkunfähige hirnlose Tiere, die die natürlichen Feinde von Träumern sind, wie er es war. Er haßte sie, wie Schwache stets die Starken verabscheuen müssen, diese glanzumstrahlten Schweine, die einen Träumer und seine Träume jederzeit in den Boden stampfen konnten, wenn sie wollten. Und dann war ihm eingefallen, daß er selbst ja auch nicht gerade ein Schwächling sei, daß er — der früher spillerig und kränklich gewesen war — sich durch harte Mühe und Training zu einem großen, breiten beeindruckenden Kerl gemacht hatte. Nicht so körperlich schön und perfekt, wie diese Männer es waren — dafür war er zu untersetzt, zu grob, zu ungeschlacht —, aber trotzdem, sagte er sich, unter diesen ganzen Männern war keiner, dem er nicht die Rippen zerquetschen konnte, wenn es zu einer Auseinandersetzung kam. Und er war damals dort weggegangen, erfüllt von Wut und rasenden Vorstellungen blutrünstiger Gewalttätigkeit.
Was steckte hinter dem allem? Diese kaum zu bändigende Wut — war das eine versteckte dunkle Lust, ein zutiefst bestialisches Verlangen nach Sünde? Sollte die in ihm aufgestiegene Wut nur jene andere kaschieren, die er gegen sich selbst hatte richten müssen, weil er diese nackten Männer heimlich beobachtete und weil ihm das Vergnügen bereitete?
Nein. Nein, Nein. Er war schließlich kein Abartiger. Dessen war er sich ganz sicher.
Er war überzeugt davon, daß es ein Anzeichen von Dekadenz sei, des Niedergangs der Zivilisation, wenn Männer nach Männern verlangten. Er selbst war ein Pionier und kein schwächlicher, gezierter Sodomit, der sich in Schmutz und eitler Sünde suhlt. Und wenn er in seinem kurzen Leben auch nie die Liebe einer Frau gekannt hatte, dann aus Mangel an Gelegenheit, und nicht etwa, weil er jene andere schändliche Form der Liebe bevorzugte. Er lebte bis ans Ende seiner Tage in dieser kleinen abgeschiedenen Präriestadt, ganz der Sorge für seine Mutter und seiner Schriftstellerei hingegeben, er hatte es vorgezogen, sich nicht mit Prostituierten und leichten Weibern abzugeben, aber er war sicher, wenn er ein paar Jahre länger gelebt hätte und die Frau, die ihm die wahre Gefährtin hatte sein können, sich ihm eröffnet hätte, dann hätte er gewißlich leidenschaftlich und hingebungsvoll zugegriffen.
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