Calyxa war ein Mädchen und ihnen folglich nur zur Last gefallen — nie, dass sie mal nachsichtig oder nett zu ihr gewesen wären. Dann war sie ihrer Willkür unverhofft entkommen, als Job und Utty ins Gefängnis wanderten; Calyxa wurde in einem kirchlichen Internat in Quebec City untergebracht, wo sie lesen und schreiben lernte. Die Schule war kein Paradies, aber drei regelmäßige Mahlzeiten am Tag hatten sie aufblühen lassen, und sie hatte immerhin einen Zugang zur Welt des Lernens gefunden. Ihre angeborene Neugier und ihre Lebhaftigkeit waren beansprucht worden — und dann wurden ihre Brüder vorzeitig entlassen, und Calyxa wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, wieder in ihre Obhut zu kommen.
Aber das Gesetz war unerbittlich, und man gab sie den beiden zurück. Zu ihrem Entsetzen betrachteten Job und Utty sie nicht mehr als nutzlose Belastung, sondern hatten einen Plan ausgeheckt, demzufolge sie an ein Bordell in Montreal verkauft oder, wenn das nicht klappte, an eine andere Guerillabande verschachert werden sollte.
Das passte ihr ganz und gar nicht, und sie beschloss Reißaus zu nehmen, ehe der Handel spruchreif wurde. Zum Glück hielten ihre Brüder sie noch immer für ein Kind, zumindest was ihren geistigen und seelischen Entwicklungsstand betraf, und gingen wie selbstverständlich davon aus, sie könnten sie durch entsprechende Einschüchterungen gefügig machen. Sie irrten sich. Während sie im Kerker geschmachtet hatten, war ihre Calyxa tüchtig herangereift. Sie war nicht nur gescheit genug, sie auszutricksen, sie war auch klug genug, sich für reuig, lammfromm und gehorsam auszugeben und ihre Brüder bis zur Arglosigkeit einzulullen. Als Job und Utty sie in der Wildhütte zurückließen, von wo sie ihre Herbstfallen aufrollten — der Abgeschiedenheit und ein paar zünftigen Drohungen vertrauend, die Calyxa hindern würden, auf dumme Gedanken zu kommen —, erkannte sie ihre Gelegenheit und packte sie beim Schopf.
Sie klaubte das bisschen Proviant zusammen, das sie finden konnte, steckte den Kompass ein, den sie Utty gestohlen hatte, und machte sich auf den Weg nach Montreal. Sie sprach nur ungern über den mörderischen und einsamen Fußmarsch, an dessen Ende sie völlig erschöpft und ausgehungert hier angekommen war. Nach ein paar Nächten in den Straßen von Montreal war ihr klargeworden, dass sie jetzt ihr Leben selbst in die Hand nehmen musste; und sie fing an zu singen — erst für Pennys auf den Bürgersteigen und dann in Tavernen. Singen gelernt hatte sie im Internat, die Geistlichen hatten ihr Talent entdeckt und gefördert.
Inzwischen kam sie gut zurecht und hatte bessere Gesellschaft als die von Job und Utty Blake. Doch die Flucht vor ihren Brüdern würde erst dann zu Ende sein, wenn die beiden nicht mehr lebten, denn sie schäumten vor Wut über den Verlust, den sie erlitten hatten. Calyxa hatte ihnen Calyxa gestohlen, und sie wollten sie zurückhaben und sie für ihre Dreistigkeit bestrafen.
Calyxa war entschlossen, es nicht so weit kommen zu lassen. Im Winter war nicht viel zu befürchten, denn die Blakebrüder verbrachten ihn im Einflussbereich des deutschen Gouverneurs der Saguenay-Region, wo sie wilderten und soffen und sich bei den Mitteleuropäern als Spione verdingten. Doch im Sommer wurden sie unternehmungslustiger und kamen häufig nach Montreal, um Felle zu verkaufen oder ihr Geld zu verspielen. Drei Sommer hatte Calyxa nun schon in der Angst verbracht, die beiden könnten ihren Aufenthaltsort entdecken. Sie verließ sich auf Freunde, die Bescheid wussten und Augen und Ohren offen hielten; und die Brüder waren bereits zweimal wieder abgezogen, ohne auch nur das Geringste über Calyxa in Erfahrung gebracht zu haben, und Calyxa hatte viele Aufpasser, die eine zufällige Begegnung der Geschwister zu verhindern wussten.
Heute Abend hatte Calyxa allerdings das denkbar Schlimmste erfahren. Evangelica wusste von einem Freund, dass Job und Utty wieder in der Stadt waren und Anhaltspunkte dafür hatten, dass ihre Schwester hier lebte. Sie hätten Witterung aufgenommen und bereits herausgefunden, dass Calyxa im Thirsty Boot verkehrte — und sie seien eben jetzt unterwegs hierher.
»Dann sollten Sie schleunigst nach Hause gehen und sich verstecken«, sagte ich. »Ich werde Sie begleiten, wenn das Ihr Wunsch ist.«
»Das wäre genau das Falsche, nein. Job, der Klügere von beiden, wird sich überlegt haben, die Taverne zu beobachten, statt hier hereinzuplatzen und sich Probleme einzuhandeln. Die beiden sind Jäger, Adam Hazzard, und wissen, wie man sich anpirscht, selbst wenn die Beute Wind bekommen hat. Wenn sie wirklich noch nicht wissen, wo ich wohne, brauchen sie mir nur zu folgen und so lange zu warten, bis keiner da ist, der den Einbruch bezeugen kann.«
»Dann leben Sie also allein?«
»Ja.«
»Kein Mann, der Ihnen zur Seite steht?«
»Nein, aber was soll das?«
»Na ja, das vergrößert das Risiko. Was wollen Sie tun, wenn Sie nicht nach Hause können?«
»Hierbleiben. Ich muss mich hier verstecken. Evangelica will mich warnen, wenn Job und Utty reinkommen. Selbst dann dürfte mir noch nichts passieren — solange die beiden nicht das Haus auf den Kopf stellen. Deshalb hätte ich Sie gerne bei mir — Sie und Ihre Pistole.«
»Sind Ihre Brüder bewaffnet?«
Zivilisten durften im Stadtbereich keine Waffen tragen, und die meisten hielten sich daran. Nicht so ihre Brüder, erklärte Calyxa. Beide seien erfahrene Pistolenschützen und würden lauthals prahlen, wie viele Männer sie schon getötet hätten. Das brachte mir wieder den Ernst der Lage zu Bewusstsein, und ich riet ihr, noch einmal aus dem Fenster zu blicken, um sich zu vergewissern, dass sich die beiden nicht unbemerkt angeschlichen hatten.
Es verstrich jedoch so viel Zeit, dass unsere Wachsamkeit allmählich nachließ; ihr Spiralfederhaar im Licht der Sturmlaterne bewundernd, schöpfte ich eben wieder Mut, als sie vom Stuhl aufsprang und sagte: »Oh, Mist!« [40] Oder ein noch deftigeres Wort, das unter dem großzügigen Regime des Kulturellen Relativismus den Nagel zwar auf den Kopf trifft, hier aber trotzdem nicht gedruckt werden kann.
»Kommen sie?«
Sie nickte. Ich stürzte ans Fenster und konnte eben noch zwei stämmige Burschen sehen — einen geflickten Wollmantel und ein dunkles Wolljackett mit gelb blitzenden Knöpfen (vielleicht ein Kolani) —, die im Fackellicht über die Straße kamen, um unter uns zu verschwinden, genau da, wo der Eingang des Thirsty Boot lag.
»Löschen Sie das Licht!«, sagte Calyxa. »Warten Sie! Erst noch das Fenster aufmachen.«
»Warum das denn?«
»Für den Fall, dass wir rasch hier rausmüssen.«
»Da draußen ist nur die Straße, und die liegt zwei Etagen unter uns.«
»Unsere letzte Zuflucht«, sagte sie.
Wir kauerten in dem dunklen Zimmer und ahnten nichts Gutes. Die Hitze war drückend. Ich konnte das herannahende Unwetter riechen — ein schwerer, salziger Geruch —, und mein Körpergeruch war auch nicht gerade frisch, obwohl ich mich heute früh gewaschen hatte. Vielleicht konnte Calyxa sich auch riechen — ich konnte es jedenfalls, und ihr Geruch war nicht unangenehm — für mich roch sie warm und aufregend —, aber lassen wir das.
Ihre Brüder blieben vorerst im Parterre, tranken vermutlich und machten sich mit den Gegebenheiten vertraut. Doch sie waren mit einer festen Absicht gekommen, und die ließ sich nicht einfach vertagen. Wir vernahmen Schritte auf der Treppe … es war Evangelica, die nette Kellnerin, die heimlich raufkam, um uns zu warnen.
Sie klopfte hauchzart an die Tür. »Sie kommen rauf!«, flüsterte sie. »Arnaud und der Barkeeper haben ihnen gedroht, aber die Blakes haben ihre Pistolen gezogen, und alle kuschen. Sie wollen alle Zimmer durchsuchen — ich muss wieder runter! Seht euch vor.«
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