Ich nickte.
»Und Sie haben ein Interesse an Calyxa Blake?«
Endlich wusste ich ihren Nachnamen! (Allerdings aus zweiter Hand.) Ich überlegte kurz, ob Calyxa Blake meine Absichten missverstanden und ihre Befürchtungen der Kellnerin mitgeteilt hatte. »Nur das wohlmeinendste Interesse«, sagte ich aufrichtig. »Ich war beeindruckt, als ich sie habe singen hören, das war zu Ostern in einer der größten Kirchen von Montreal. Danach habe ich sie angesprochen. Ich hatte eine Kopfverletzung. Aber sie war freundlich zu mir. Dafür möchte ich mich bei ihr bedanken — na ja, eigentlich habe ich mich schon bedankt —, und so gern ich noch mehr mit … ähm … Miss Blake …« — hoffentlich lag ich richtig mit »Miss« — »… reden möchte, würde ich mich niemals aufdrängen. Wenn ich sie mit meiner ungeschickten Begrüßung aus der Fassung gebracht habe, bitte sagen Sie ihr, dass ich einfach nur aus allen Wolken gefallen bin, als ich sie erkannte.«
Das war eine hübsche Rede, und dazu aus dem Stegreif; ich war stolz auf mich.
Die Kellnerin saß da und musterte mich nur. Dann wiederholte sie: »Sie sind ein Soldat?«
»Ja, ein Soldat. Ich komme aus Athabasca und wurde unterwegs eingezogen.«
»Heißt das, Sie tragen eine Pistole? Ihr Soldaten seid doch immer bewaffnet.«
Ich war nicht im Dienst und trug keine Uniform, aber hierzulande hatte ein amerikanischer Soldat immer und überall seine Pistole dabeizuhaben. Ich trug sie unterm Hemd um die Taille geschnallt, wo sie kaum auffiel, denn ich wollte weder warnen noch provozieren; aber sie war in Griffweite. Ich nickte. »Hat sie Angst davor?«
»Nein.«
»Haben Sie denn Angst davor?«
Sie hätte beinah gelächelt. »Eine Pistole in solchen Händen macht mir keine Angst, nein. Wie heißen Sie gleich?«
»Adam Hazzard.«
»Warten Sie hier, Adam Hazzard.«
Ich war völlig aus dem Häuschen, nickte aber gehorsam. Nachdem sie die Handvoll Gäste bedient hatte, die bereits lauter als üblich nach ihr riefen, kehrte sie zu Calyxas Tisch zurück, wo die beiden noch mehr miteinander tuschelten, während ich nicht zu erröten versuchte angesichts der ungewöhnlichen Aufmerksamkeit, die sie mir zollten.
Es dauerte keine Viertelstunde — in deren Verlauf Calyxa auf die Eingangstür starrte, als rechne sie jeden Augenblick damit, dass der Leibhaftige hereinplatze —, bis die Kellnerin zu meinem Tisch kam und flüsterte: »Sie sollen schon mal nach oben gehen, Adam Hazzard.«
Ich hatte Angst, mein Interesse an Calyxa könne zu weit ausgelegt worden sein und man habe ein Stelldichein im Sinn — nun gehörte Calyxa aber nicht zu den Frauen, die sich von jetzt auf gleich zur Verfügung stellten. Ich bekam kein Bein mehr auf den Boden, doch das Gebaren der Kellnerin drängte auf Eile, und der schwermütige Ernst in Calyxas Gesicht schien dasselbe zu tun; und so nickte ich und sagte: »Wo oben?«
»Zweiter Absatz, dritte Tür rechts. Laufen Sie aber nicht gleich zur Treppe. Wenn ich weg bin, warten Sie noch ein bisschen. Es darf nicht auffallen.«
Ich war mit allem einverstanden. Die nächsten Minuten vergingen nur langsam; dann stand ich auf, eine Lässigkeit vortäuschend, die vielleicht eine Spur zu theatralisch war, so wie Calyxa die Augen verdrehte. Wie dem auch sei, kurz darauf war ich die trübe beleuchteten Stufen hinauf, fand das Zimmer und machte die Tür auf.
Das Zimmer war klein und enthielt lediglich einen Stuhl, ein paar Kisten mit Holzwolle, ein leeres Fass mit der Aufschrift SALT FISH und eine rostige Sturmlaterne. Mit Letzterer machte ich Licht. Es roch nach feuchtem, schimmeligem Holz. Das einzige Fenster überblickte (soweit der Schmutz es zuließ) die belagerten Verkaufsstände und von Fackeln erleuchteten Geschäfte der Guy Street. Ich konnte ein tintenschwarzes Stück Nachthimmel sehen, das von fernen Blitzen durchzuckt wurde; der böige Wind ließ die Markisen der Guy Street knattern, vermutlich stand ein Unwetter bevor. Feucht genug war die Stadtluft und schwülheiß dazu, besonders in diesem Obergeschoss. Ich überließ Calyxa den Stuhl und hockte mich auf eine Kiste und wartete, dass sie kam, und versuchte, nicht zu schwitzen.
Es vergingen keine zehn Minuten, da öffnete sie die Tür. Der Leser mag sich meine Aufregung und Neugier vorstellen, die ihr Besuch bei mir auslöste. Im Flurlicht war ihr Haar eine einzige ebenholzschwarze Lockenpracht. Sie setzte die Hände auf die Hüften und betrachtete mich.
»Evangelica meint, Sie wären harmlos«, sagte sie. »Sind Sie harmlos?«
»Evangelica« hieß vermutlich die Kellnerin. »Na ja, gefährlich bin ich jedenfalls nicht.«
»Sie heißen Adam Hazzard?«
Ich nickte. »Und Sie sind Calyxa Blake.«
»Adam Hazzard, ich weiß nicht, wer Sie sind — für mich sind Sie nur ein Soldat auf Urlaub —, aber ich brauche Hilfe und Evangelica meint, Sie würden mir den Gefallen tun, ohne eine allzu große Gegenleistung zu verlangen.«
»Selbstverständlich helfe ich Ihnen, egal in welcher Lage Sie sind, und als Gegenleistung verlange ich gar nichts.«
»Ein Bursche aus dem tiefen Westen. Wie Evangelica gesagt hat. Wie alt sind Sie?«
»Neunzehn«, sagte ich, was um weniger als einen Monat übertrieben war.
»Können Sie mit der Pistole umgehen, die Sie bei sich tragen?«
»Das sollte ich als Soldat, und das kann ich.«
»Haben Sie sie jemals benutzt? Auf jemanden geschossen, meine ich?«
»Ich habe auf viele Menschen geschossen, Miss Blake, deutsche Menschen, aber mit meinem Pittsburgh-Gewehr — und auch einige getroffen, da bin ich mir sicher. Und was meine Pistole betrifft, mit der habe ich bis jetzt nur auf Zielscheiben geschossen, aber ich weiß damit umzugehen. Wollen Sie, dass ich jemanden erschieße? Das ist ein bisschen viel verlangt … nicht, dass ich kneifen will … aber eine Erklärung wär schon vonnöten.«
»Die können Sie haben, wenn die Zeit reicht.« Sie blickte sich in dem engen Zimmer um.
»Da ist ein Stuhl, wenn Sie sich setzen wollen.«
»Und ob ich mich setzen will, aber so, dass ich aus dem Fenster sehen kann.«
Sie schleifte den Stuhl ans Fenster. Sie brauchte keine Hilfe — Calyxa war ein großes Mädchen, offensichtlich gewöhnt, solche Sachen alleine zu meistern. Sie setzte sich so, dass sie aus dem Fenster blicken konnte, während wir redeten (ich sah sie meistens im Profil). »Das ist unangenehm«, sagte sie.
»Sie können sich auch auf eine Kiste setzen, wenn das bequemer ist.«
»Ich meine unser Gespräch.«
»Tja, das liegt daran, dass wir uns so gut wie gar nicht kennen … obwohl ich seit Ostern viel an Sie gedacht habe.«
»Haben Sie das? Warum gerade an mich?«
»Wie meinen Sie das?«
»Von all den Frauen im Chor, was habe ich, was die anderen nicht haben? Die meisten Soldaten, die ich getroffen habe, sind mehr an Huren als an Chorsängerinnen interessiert.«
»Um ehrlich zu sein, ich weiß es selbst nicht. Ich fand Sie einfach … außergewöhnlich.« Ich bekam fast nichts mehr heraus, so funkelten mir die Ohren.
»Wie kindisch. Aber das macht nichts.« Sie musterte wieder die Straße. »Ich sehe sie nicht … schwer zu sagen in dem Duster …«
»Wen erwarten Sie?«
»Ein paar Männer, die mir übel mitspielen wollen.«
»In dem Fall tue ich alles, was in meiner Macht steht, um Sie zu beschützen! Wer sind die Schurken?«
»Meine Brüder«, sagte sie.
Wir redeten noch fast eine Stunde in diesem engen Zimmer. Sie erzählte mir mit bewundernswerter, wenn auch erstaunlicher Offenheit, dass sie erst drei Jahre alt gewesen sei, als ihre Eltern starben, und dass ihre Brüder Job und Utty (Uther) Blake, beide sogenannte Buschläufer, sie aufgezogen hatten. [39] Buschläufer sind Männer, die in der Wildnis der Laurentischen Berge und oben in der Felswüste von Labrador operieren; sie leben am Rande des Gesetzes. Manche bilden Guerillabanden und schlagen sich mal auf die Seite der Amerikaner, mal auf die Seite der Mitteleuropäer; doch »hauptberuflich« sind sie Pferdediebe, Schmuggler und Gelegenheitsplünderer.
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