»Hoffentlich«, sagte ich verärgert.
»Die Hose hat Hochwasser. Sonst ist sie hübsch, bis auf die Knöchel, sie hat nämlich keine.«
»Ich muss mir jetzt nicht deine Meinung über ihre Knöchel anhören! Was gehen dich ihre Knöchel an?«
»Sie hat richtige Stempel — und ob mich das was angeht, das geht uns alle an!«
»Geht keinen was an. Still jetzt!«
»Was ist los mit dir?«, fragte Lymon; doch dann hielt er zum Glück den Mund.
Calyxa begann tatsächlich zu singen, mit einer reinen, aber präzisen und erfreulich geschulten Stimme. Ohne Trillern und Trällern, ohne Tremolos und Theatralik oder burleskes Pfeifen, ohne den ganzen Firlefanz, der bei zeitgenössischen Sängerinnen gang und gäbe war. Nein, sie sang die Lieder, wie sie komponiert waren: schlicht und alle Nuancen aus den Worten und Melodien beziehend und nicht aus irgendwelchem Beiwerk.
Sie hampelte auch nicht herum beim Singen. Sie klatschte nur in die Hände, räusperte sich und fing an. Für manche zu dezent, nach den gelegentlichen Zwischenrufen angetrunkener Kritiker zu urteilen. Für mich war es Ausdruck ihres natürlichen Anstands — der in krassem Widerspruch zu den Liedern stand.
Sie sang fünf Lieder, von denen die meisten Strophen hatten, die im Zug mit dem Karibugeweih oder an ähnlich unrühmlichen Orten durchaus willkommen gewesen wären. Ich war bestürzt, wie man sich denken kann. Doch dann fiel mir Julians Doktrin vom sogenannten Kulturellen Relativismus ein, von deren Richtigkeit ich seitdem überzeugt bin. Denn diese Lieder, die mir aus dem Mund anderer so verdorben vorgekommen waren, wurden durch Calyxas Stimme geläutert. Calyxa musste unter Menschen aufgewachsen sein, die mit solchen Liedern und Gefühlen ihr tägliches Brot verdienten und sie überhaupt nicht als obszön oder ausschweifend betrachteten. Mit anderen Worten, ihre Unschuld war angeboren und nicht durch ihre vulgäre Umgebung kompromittiert worden — es müsse sich dabei, fand ich, um eine Art unzerstörbare Erbunschuld handeln.
Zwei Lieder hatten keinen englischen Text, was Lymon Pugh irritierte. »Die traut sich wirklich, ein deutsches Lied zu singen!«
»Nicht deutsch, Lymon. Französisch. Diese Sprache wurde hier jahrhundertelang gesprochen, hier und da spricht man sie heute noch.«
Lymon hatte offenbar angenommen, es gebe nur zwei Sprachen: Englisch und Fremdländisch. Er war entsetzt, dass es Sprachen wie Sand am Meer geben sollte, häufig (nicht immer) eine pro Land. »Kaum lerne ich eine zu schreiben, vermehren sie sich wie die Kaninchen! Ich sag dir was, Adam, alles hat einen Haken, einfach alles. Die Welt ist so hinterlistig wie der Glückstopf von Langers.«
»Meistens reicht Englisch, es sei denn, du reist ins Ausland.«
»Nein, danke, ich bin weit genug gereist — dieses Land ist mir schon fremd genug, auch wenn es Amerika heißt.«
Ich flehte ihn noch einmal an, den Mund zu halten, während Calyxa zu Ende sang.
Sie tat, als höre sie den Applaus nicht, trat mit einem Ausdruck stiller Zufriedenheit ab und kehrte zu ihrem Tisch zurück. Ich verzehrte mich danach, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, stand unversehens auf, als sie vorbeikam, wobei ich fast mein Essen vom Tisch gekippt hätte, und rief mit erstickter Stimme: »Calyxa!«
Ich muss wohl doch zu laut gewesen sein, denn sie zuckte zusammen, und es entstand eine kurze Pause im Lärmpegel, als erwarteten einige Stammgäste Handgreiflichkeiten.
»Muss ich Sie kennen?«, fragte sie, als sie ihre Fassung zurückgewonnen hatte.
»Wir sind uns Ostern begegnet. Ich war in der Kathedrale, wo Sie gesungen haben, bevor uns die deutsche Artillerie einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Erinnern Sie sich? Ich hatte mir den Kopf verletzt.«
»Oh«, sagte sie mit einem leisen Lächeln, woraufhin sich die Wachsamen unter den Gästen wieder entspannten, »der Soldat mit der kleinen Verletzung. Konnten Sie Ihr Regiment finden?«
»Ja sicher — vielen Dank.«
»Keine Ursache«, sagte sie und ging.
Ich hatte natürlich nicht erwartet, dass sie die Unterhaltung ausdehnen oder ihre Freunde meinetwegen versetzen würde. Aber diese Antwort war eine Enttäuschung.
»Die hat dich aber abblitzen lassen«, sagte Lymon Pugh und lachte in sich hinein. »Du verschwendest deine Zeit, Adam. Der Typ Frauen stellt sich nicht von jetzt auf gleich zur Verfügung. Komm mit zum Shade Tree , da hast du mehr Glück.«
»Nein.« Nicht, wenn das Ziel zum Greifen nah war.
»Tja, mach, was du willst. Ich bin verplant.«
Lymon Pugh erhob sich, nicht so sicher wie sonst, fand nach ein paar verstörten Ansätzen die Eingangstür der Taverne und ging.
Ich kam mir vor wie auf dem Präsentierteller — ich saß allein an meinem Tisch, während alle anderen mit Freunden gekommen waren; doch ich unterdrückte mein Unbehagen und bestellte eine zweite Mahlzeit, nicht um sie zu essen, sondern um mir die gute Laune der Kellnerin zu erhalten.
Calyxa schien sich bei ihren Gefährten wohlzufühlen. Von Zeit zu Zeit stiegen andere Sänger oder Musiker auf die Bühne, offenbar nach Absprache mit dem Betreiber der Taverne. Kein Sänger (ob Mann oder Frau) war so talentiert wie Calyxa, und bei keinem paarte sich das Vulgäre mit einer wie auch immer gearteten Unschuld. Calyxa unterhielt sich, wie mir schien, sehr nett mit ihren Freunden, lauter Männer und Frauen, alle so jung wie Calyxa — also in meinem Alter oder unwesentlich älter. Die Frauen waren ähnlich einfach gekleidet und zeigten ausnahmslos eine gewisse Nachlässigkeit, was ihre Frisur und andere weibliche Finessen betraf. Die Männer am Tisch katapultierten diese liebenswerte Einfachheit und Nachlässigkeit auf eine total andere Ebene und schienen geradezu stolz zu sein auf ihre ramponierten Hosen und Hanfhemden. Etliche trugen trotz der abendlichen Wärme Wollmützen, als brauchten sie etwas, woran sich in dramatischen Momenten der Unterhaltung zupfen oder rücken ließ. Ihre Gesten waren dramatisch, ihr Tonfall war knapp und eindringlich, und ihre Ansichten, obwohl ich nur ein paar Worte aufschnappen konnte, waren vehement und komplex, geradezu philosophisch.
Mir kam der entsetzliche Gedanke, Calyxa könne einen Freund, schlimmer noch einen Ehemann haben — und wenn, dann saß er vermutlich mit am Tisch. Ich wusste so wenig über sie! Ich begann sie eingehender zu beobachten.
Mir fiel auf, dass sie dann und wann einen Blick in Richtung Eingangstür warf, und dass jedes Mal, wenn sie es tat, ein Ausdruck von Angst über ihr Gesicht flog. Das war auch schon alles, was mir im Laufe einer Stunde auffiel, und ich konnte mir keinen Reim darauf machen und begann bereits die Hoffnung aufzugeben, jemals wieder ein Wort mit ihr zu wechseln, als uns eine Serie von unerwarteten Ereignissen auf überraschende Weise zusammenbrachte.
Die Kellnerin, die für meinen Tisch zuständig war, stand anscheinend mit Calyxa auf vertrautem Fuß. Die beiden steckten ab und zu die Köpfe zusammen. Nach einem dieser Wortwechsel trat wieder dieser Ausdruck größter Besorgnis in Calyxas Gesicht, und sie nickte todernst zu dem, was die Kellnerin ihr zugetragen hatte.
Es musste etwas Schreckliches gewesen sein; denn Calyxa blieb zwar auf ihrem Platz, stieg aber aus der lebhaften Unterhaltung der Tischgesellschaft aus und schien düsteren Gedanken nachzuhängen. Mehrmals rief sie die Kellnerin zurück, um sich mit ihr zu beraten; und bei einer dieser Gelegenheiten sahen beide zu mir herüber, und zwar so, dass es kein Zufall sein konnte. Ich konnte mir aber die Bedeutung dieser Manöver nicht erklären.
Dass sie eine Bedeutung hatten, sollte sich bald zeigen, denn die Kellnerin kam an meinen Tisch, zog den Stuhl heraus, auf dem Lymon gesessen hatte, und setzte sich.
Ich staunte über den kühnen Vorstoß. Zum Glück übernahm sie die Führung in dem Gespräch, das nun folgte. »Sie sind ein Soldat«, sagte sie energisch, aber nicht unfreundlich.
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