»Ist Ihre Waffe geladen, Adam Hazzard?«, fragte Calyxa mit fester Stimme.
Ich nahm sie heraus und vergewisserte mich.
»Geben Sie her«, sagte sie.
»Was wollen Sie damit?«
»Ich kann doch nicht von Ihnen verlangen, dass sie meine Brüder erschießen.«
»Ich schieße, wenn es sein muss — hoffe aber, dass es nicht dazu kommt.«
»Sie tun es, wenn es sein muss — ich, weil es mir Freude macht.« (Sie spielte die Blutrünstige, um meine Gefühle zu schonen: Mir wurde warm ums Herz.) »Geben Sie her«, wiederholte sie.
»Kommt nicht infrage.«
»Na gut, werden Sie denn schießen? Sie totschießen, meine ich? Versprochen?«
»Beim ersten Anzeichen von …«
»Anzeichen gibt es genug, Adam! Die gehen über Leichen! Du musst schießen, sobald du ihren Schatten siehst — du musst schießen, um zu töten, nicht um zu verwunden —, oder wir sind jetzt schon verloren!« (Sie duzte mich!)
»So grausam können sie nicht sein.«
»Mein Gott, Adam! Gib mir das Schießeisen, ich flehe dich an.«
»Nein — wenn Blut fließt, dann soll es mein Gewissen belasten und nicht deins.«
»Gewissen!«, jammerte sie. » A quel genre d’idiot j’ai affaire? Wenn du mir nicht die Pistole gibst, bleibt nur noch das Fenster...« [41] Calyxa sprach, im Gegensatz zu mir, fließend Französisch und verfiel in den komischsten Augenblicken in diese Sprache. Für mich ist Französisch seit jeher ein Buch mit sieben Siegeln und wird es auch bleiben; aber ich habe mir große Mühe gegeben, Calyxas Worte exakt aufzuschreiben.
»Wir brauchen nicht in den Tod zu springen!«
»Wer hat was von Springen gesagt? Wir können höchstens abstürzen. Schnell, Adam, ich höre sie auf der Treppe … zieh die Stiefel aus!«
Ich gehorchte aufs Wort, denn sie schien einen Plan zu haben. Was mir daran nicht gefiel, war das Fenster. »Warum ziehe ich mir eigentlich die Stiefel aus?«
»Bloße Füße sind nicht so rutschig. Steck die Pistole weg, damit du freie Hände hast. Mir nach!«
Es war dunkel im Zimmer, und ich blieb so dicht wie möglich hinter ihr, stieß mir aber trotzdem den Zeh (vermutlich am Fass). Dann riss sie das Fenster auf und ließ einen Schwall Regen und einen Blitzschlag mit Donnergrollen herein. Das Unwetter, das sich über Tag angekündigt hatte, war jetzt über uns. Es rollte und grollte unaufhörlich, und der Sturm heulte unbarmherzig. Ungläubig sah ich zu, wie Calyxa ihren Oberkörper aus dem Fenster schob und sich wand und krumm machte, bis sie draußen stand, die Zehen um den schmalen Sims gekrallt. Dann packte sie die Traufe und zog sich nach oben.
Schließlich tauchte ihr hübsches Gesicht wieder auf, verkehrt herum oben im Fenster. »Los, Adam! Gib mir die Hand.«
Es war peinlich, sich in so einer Situation von einem Mädchen helfen zu lassen, aber es war noch peinlicher, von einem Blakebruder erschossen zu werden oder in den sicheren Tod zu stürzen; also packte ich ihre Hand, setzte meine bloßen Füße quer auf den triefnassen Fenstersims und versuchte, nicht an die Straße zu denken oder den Blitz, der sich am Himmel verzweigte und die Blitzableiter der zahllosen Kirchturmspitzen befingerte.
»Jetzt pack in die Rinne und zieh dich rauf!«
Ich war mir nicht sicher, ob ich das fertigbrachte — ich war überzeugt, dass ich es nicht fertigbrachte —, doch ein paar Atemzüge später lag ich neben Calyxa auf dem mit Mönchund-Nonnen-Ziegeln gedeckten Dach des Thirsty Boot . Wir lagen in einem waghalsigen Winkel und drohten ins Leere zu rutschen. Regenwasser spülte ungehemmt über uns hinweg. Aber wir waren für diesen Bruchteil eines Augenblicks in Sicherheit: Wenn man das Wort so strapazieren darf.
Ich drehte mich zu Calyxa, weil ich etwas sagen wollte (was, weiß ich nicht mehr) — ihr Gesicht war nur ein paar Zoll von meinem entfernt —, doch sie legte den Finger an die Lippen. »Deine Pistole?«, flüsterte sie.
Ich holte sie wieder heraus. Eine moderne Porter-&-Earle-Armeepistole; ich war mir so gut wie sicher, dass ihr das Wetter nichts anhaben konnte.
»Ziele damit«, sagte sie,
»Worauf?«
»Zwischen deine Füße!« Wo das Dach aufhörte, meinte sie: auf die Regenrinne, an der wir uns eben hochgezogen hatten. Ich kam ihrer Laune nach, stützte meine Rechte mit der Linken ab und stemmte meine Füße gegen die Ziegel, um nicht abzurutschen. So warm der Tag gewesen war, der Regen schien sich aus irgendeiner eisigen Höhe zu stürzen, und ich musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu zittern. »Vielleicht kommen sie gar nicht auf die Idee, mich hier oben zu suchen«, sagte Calyxa. »Wenn doch, dann musst du sofort abdrücken, wenn jemand über den Rand will. Mit anderen Worten, sobald du einen Kopf siehst, puste ein Loch rein. Jetzt sei still!«
Ich hatte kein Problem damit, die Nacht schon eher — sie war entsetzlich laut. Der Regen hatte die Geschwindigkeit von Artilleriefeuer und zerbarst auch so auf dem Dach. Die Dächer dieser Montreal-Gebäude waren unregelmäßig — das war nicht die Handschrift der Säkularen Alten, die einer strengen Symmetrie folgte. Sie waren vielmehr oberflächlich und konzeptlos den skelettierten Resten älterer Gebäude übergestülpt worden. Wasser gurgelte durch ein Labyrinth aus Abzugsrohren und Schrägen, stürzte kaskadenartig in gemauerte Zisternen und Rückhaltebecken und strömte in glitzernden Wellen über die Dachpfannen. Als hätten wir uns vor einer Überschwemmung aufs Dach gerettet, wenn man vom Lärm absah.
Doch Calyxa lauschte angestrengt auf Geräusche aus dem Zimmer, das wir eben erst verlassen hatten. Sie hielt eine Hand ans Ohr, und ich lauschte in dieselbe Richtung, allerdings ohne Erfolg — oder mit zu viel Erfolg, denn ich bildete mir laufend ein, Schläge, splitterndes Holz und dergleichen zu hören, und rechnete jeden Moment mit einem wutschnaubenden Blakebruder. Plötzlich versteifte sich Calyxa und bekam große Augen. »Achtung, Adam!«
Ich konzentrierte mich auf die Dachtraufe, mein Herz hämmerte im Gefechtstempo. Das Regenwasser in meinen Augen verflüssigte die Details. Ich sah das Ende der letzten Dachpfannen und den Rand der Dachrinne und das Hochhaus auf der anderen Seite der Guy Street und einen Abschnitt der Straße tief unten. Es tat ein Geräusch, wie wenn ein Fenster aufschlägt und gegen einen Widerstand knallt. Calyxa holte erschrocken Luft, und ich hätte es fast vergessen.
Sekunden vergingen. Es schüttete; es krachte, und Blitze krakelierten die blinde Glasur der dicht gedrängten Wolken.
Dann rührte sich etwas an der Dachtraufe zu meinen Füßen, ein Paar Fingerknöchel, vier rechts, vier links, packten über den Außenrand der Rinne. Das war der »Dachhorizont«, schoss es mir durch den Kopf, und schon ging ein haariger Mond auf.
Der Mond war ein Blakebruder, der den vermutlichen Fluchtweg seiner Schwester erforschte. Vielleicht hatten die beiden ihre Meinung über Calyxas geistige und körperliche Fähigkeiten inzwischen geändert. Nach dem Kopfhaar zu urteilen, hatte ich es auf jeden Fall mit einem Blake zu tun:
Das Haar auf diesem unwillkommenen Mond war so gekräuselt wie das von Calyxa, aber wild durcheinander und so ölig, dass es die Blitze mit tintenblauen Spitzlichtern belohnte. Dem Kopfhaar folgte eine Stirn, die, so abschüssig und pockennarbig, wie sie war, den Vergleich mit dem Mond nicht zu scheuen brauchte; dann folgten die Augen, gelb umrandet und rot geädert — sie begegneten den meinen und verengten sich, wie bei einer Wildkatze, die ihre nächste Mahlzeit in Sprungweite weiß.
»Schieß!«, schrie Calyxa.
Ich kann mir nicht vorstellen, einer Aufforderung nachgekommen zu sein, die von mir verlangte, einen anscheinend unbewaffneten Mann in einem so verletzlichen Moment zu erschießen (selbst dann nicht, wenn er mein Feind war) — es kann nur sein, dass Calyxas Stimme so in meinen Finger gefahren ist, dass er vor lauter Schreck abgedrückt hat. Ich spürte den Rückstoß. Das Geräusch gesellte sich zu den plärrenden Donnerschlägen. Da wo eben noch der Kopf gewesen war, spritzte ganz kurz eine rot-weiße Fontäne (aus Knochen und Blut vermutlich); ein Schrei zerriss das Unwetter, und unter uns tat es fürchterliche dumpfe Schläge, als der Verletzte (von seinem Bruder wahrscheinlich) ins Zimmer zurückgezogen wurde.
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