»Nun ja, eben darin besteht ja das Problem. Die Anlage ist abgeriegelt. Wir haben ungefähr neunhundert Mitarbeiter, die außerhalb des Geländes wohnen, aber die kommen jetzt nicht raus, und ich fürchte, sie haben einen vorrangigen Anspruch auf die Gästezimmer. Die gute Nachricht ist …«
»Moment mal«, sagte Elaine. »Eine Abriegelung? Was soll das heißen?«
»Ich vermute, dieses Problem ist Ihnen in Crossbank nicht begegnet, aber es ist Teil der Sicherheitsbestimmungen. Falls irgendeine Drohung gegen die Anlage vorliegt, wird jeglicher Verkehr nach drinnen oder draußen unterbunden, bis die Sache geklärt ist.«
»Es hat eine Drohung gegeben?«
»Das nehme ich an. Ich werde von solchen Dingen nicht unterrichtet. Aber es ist sicherlich nichts Gravierendes.«
Wahrscheinlich hatte er recht, dachte Chris. Sowohl Crossbank als auch Blind Lake waren als Nationale Laboratorien ausgewiesen und unterlagen Sicherheitsrichtlinien, die noch aus der Zeit der Terrorkriege datierten. Selbst leere Drohungen wurden ganz furchtbar ernst genommen. Einer der Nachteile der großen Medienaufmerksamkeit, die Blind Lake genoss, bestand darin, dass es dadurch auch die Aufmerksamkeit eines breiten Spektrums von Irren und Ideologen erregt hatte.
»Können Sie uns etwas über die Natur der Drohung sagen?«
»Ehrlich, ich weiß selbst nichts Näheres. Aber es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Wenn man der Erfahrung trauen kann, wird bis morgen Früh alles geklärt sein.«
Jetzt rührte sich auch Sebastian Vogel, nachdem er eine Stunde lang in einem sphinxartigen Ruhezustand auf seinem Stuhl verharrt hatte. »Und wo schlafen wir unterdessen?«, fragte er.
»Nun, wir haben — Feldbetten aufgestellt.«
»Feldbetten ?«
»In der Turnhalle im Freizeitcenter. Ich weiß, es ist eine Zumutung. Es tut mir auch furchtbar leid. Es ist aber das Beste, was wir so kurzfristig bereitstellen können. Wie gesagt, bis morgen Früh wird sicherlich alles geklärt sein.«
Weingart starrte stirnrunzelnd auf sein Klemmbrett, als könnte sich dort noch eine Rettung in letzter Sekunde abzeichnen. Elaine schien drauf und dran, aus der Haut zu fahren, doch Chris kam ihr zuvor: »Wir sind Journalisten. Bestimmt haben wir alle schon mal unter ungemütlichen Umständen übernachtet.« Na ja, Vogel vielleicht nicht. »Nicht wahr, Elaine?«
Weingart sah sie hoffnungsvoll an.
Sie schluckte hinunter, was sie hatte sagen wollen. »Ich habe schon mal in einem Zelt auf dem Gobi-Plateau kampiert. Ich nehme an, dass ich auch in einer Scheiß-Turnhalle schlafen kann.«
Reihen von Feldbetten standen in der Sporthalle, einige davon bereits von heimatlosen Tagesarbeitern belegt, die keinen Platz mehr in den Gästehäusern gefunden hatten. Chris, Elaine und Vogel suchten sich drei Betten unter dem Basketballkorb aus und beanspruchten sie als die ihren, indem sie ihr Gepäck darauf ablegten. Die bereitgestellten Kissen sahen aus wie Marshmallows, denen man die Luft abgelassen hatte. Die Decken stammten aus den Beständen des Roten Kreuzes.
Vogel sagte zu Elaine: »Gobi-Plateau?«
»Als ich meine Biografie über Roy Chapman Andrews geschrieben habe. In den Fußstapfen der Zeit. Paläobiologie einst und jetzt. Zugegeben, damals war ich fünfundzwanzig. Haben Sie schon mal in einem Zelt übernachtet, Sebastian?«
Vogel war sechzig Jahre alt. Vom hektischen Rot seiner Wangen abgesehen, war er ein blasser Typ, und er trug unförmige Pullover, um die unangenehme Überdimensioniertheit seines Bauches und der Hüften zu kaschieren. Elaine mochte ihn nicht — er sei ein Parvenü, hatte sie Chris anvertraut, ein Schwindler, ein Scheiß-Spiritualist praktisch — und mit seiner unbeirrbaren Höflichkeit hatte Vogel diese Sünde nur noch verschärft. »Algonquin Park«, sagte er. »Kanada. Eine Campingreise. Liegt natürlich schon Jahrzehnte zurück.«
»Und sie diente der Gottsuche?«
»Es war eine gemischtgeschlechtliche Gruppe. Soweit ich mich erinnere, war ich darauf aus, zu vögeln.«
»Was waren Sie damals, Theologiestudent?«
»Wir haben keine Keuschheitsgelübde abgelegt, Elaine.«
»Missbilligt Gott nicht derartige Dinge?«
»Was für Dinge? Geschlechtsverkehr? Nicht, soweit ich ermitteln konnte, nein. Sie sollten mein Buch lesen.«
»Das hab ich ja.« Und zu Chris gewandt: »Sie auch?«
»Noch nicht.«
»Sebastian ist ein altmodischer Mystiker. Gott wohnt in allen Dingen.«
»In einigen mehr als in anderen«, sagte Sebastian, eine Bemerkung, die Chris unergründlich, aber auch typisch für Sebastian fand.
»So faszinierend das alles ist«, sagte Chris, »denke ich doch, dass wir uns langsam mal ums Abendessen kümmern sollten. Der PR-Typ meinte, es gebe einen Laden im Einkaufszentrum, der bis Mitternacht geöffnet hat.«
»Ich bin dabei«, sagte Elaine, »unter der Bedingung, dass Sie die Kellnerin nicht abschleppen.«
»Ich hab keinen Hunger«, sagte Vogel. »Gehen Sie ruhig ohne mich. Ich pass auf das Gepäck auf.«
»Schnell, heiliger Franziskus«, sagte Elaine, indem sie in ihre Jacke schlüpfte.
Chris kannte Elaines Biografie über Roy Chapman Andrews. Er hatte sie im ersten Jahr seines Studiums gelesen. Seinerzeit war sie eine aufstrebende Wissenschaftsjournalistin gewesen, stand in der näheren Auswahl für den AAAS Westinghouse Award und zeichnete einen Karriereweg vor, dem er eines Tages folgen zu können hoffte.
Chris' bisher einziges Buch war ebenfalls eine Art Biografie gewesen. Das Positive an Elaine war, dass sie kein großes Trara um die stürmische Geschichte des Buches gemacht hatte und nichts dagegen zu haben schien, mit ihm zusammenzuarbeiten. Erstaunlich, dachte er, womit man sich abzufinden lernt.
Das Restaurant, das Ari Weingart empfohlen hatte, lag versteckt zwischen einem Interface-Laden und einem Geschäft für Bürobedarf im Freiluftabschnitt des Einkaufszentrums. Die meisten dieser Geschäfte waren jetzt am Abend geschlossen, und so hatte die kleine Mall etwas Verlassenes und Ungemütliches in der kühlen Herbstluft. Hingegen war der Diner, der zur Kette »Sawyer's Steak & Seafood« gehörte, gut besucht. Es war voll und laut. Sie sicherten sich schnell einen Vinoplasttisch neben dem breiten Fenster, das aufs Einkaufszentrum hinausging. Die Ausstattung konzentrierte sich auf Chrom, Pastellfarben und Topfpflanzen, spätes zwanzigstes Jahrhundert, die fadenscheinige Beteuerung einer gefälschten Altertümlichkeit. Die Speisekarten hatten die Form eines T-Bone.
Chris fühlte sich dankenswert anonym.
»Mein Gott«, sagte Elaine. »Dunkelstes Vorstadtmilieu.«
»Was wollen Sie bestellen?«
»Tja, mal sehen. Das ganztägige Frühstück? Die Fleischklöße wie bei Muttern?«
Ein Kellner trat an den Tisch und hatte noch mitgehört, wie sie das Angebot im Tonfall beißender Ironie verlas. »Der Atlantiklachs ist gut«, sagte er.
»Gut wofür genau? Nein, ist schon gut. Der Lachs mag angehen. Chris?«
Verlegen bestellte er das Gleiche. Der Kellner entfernte sich achselzuckend.
»Sie können unglaublich snobistisch sein, Elaine.«
»Überlegen Sie, wo wir sind. An der vordersten Front der menschlichen Wissensproduktion. Hier steht man auf den Schultern von Kopernikus und Galileo. Und wo essen wir? In einer Fernfahrerkneipe mit Salatbar.«
Chris hatte noch nicht herausgefunden, wie Elaine ihr großes Interesse fürs Essen mit dem sorgsam in Schach gehaltenen Körperumfang einer Frau mittleren Alters in Einklang bringen konnte. Indem sie sich mit Qualität belohnte, war seine Vermutung. Auf Kosten der Quantität. Ein Balanceakt. Sie war eine Hochseilartistin der Taillenkontrolle.
»Ich meine, nun mal ehrlich«, sagte sie, »wer ist denn hier eigentlich ein Snob? Ich bin fünfzig Jahre alt, ich weiß, was ich mag, notfalls überlebe ich auch ein Fastfood-Restaurant oder ein Essen aus der Mikrowelle, aber muss ich deswegen so tun, als wäre der hausgemachte Apfelauflauf das Gleiche wie eine Crème brulée? Meine Jugend habe ich damit verbracht, miesen Kaffee aus Pappbechern zu trinken. Diese Phase habe ich inzwischen abgeschlossen.« Sie fügte hinzu: »Das werden Sie auch noch tun.«
Читать дальше