Ray redete ein bisschen während der Fahrt. Es war keine Unterhaltung im eigentlichen Sinne, da Charlie wenig dazu beizutragen hatte. Einmal aber sagte er: »Wenn Sie mir sagen, was Sie dort im Auge suchen, Mr. Scutter, dann kann ich Ihnen vielleicht helfen, es zu finden.«
Doch Ray schüttelte nur den Kopf. »Ich vertraue Ihnen«, sagte er, »und ich verstehe Ihre Neugier, aber ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen.«
Da Ray seit Beginn der Abriegelung mehr oder weniger der Boss von Blind Lake war, hätte Charlie angenommen, er wäre befugt, über so ziemlich alles zu sprechen, was ihm in den Sinn kam. Er hakte allerdings nicht weiter nach. Ihm wurde bewusst, dass er Angst hatte vor Ray Scutter, und zwar nicht nur, weil dieser eine leitende Position bekleidete, sondern Ray strahlte auch sehr sonderbare Schwingungen aus.
Die Flecken auf seiner Jacke und der Hose, dachte Charlie, sahen aus wie getrocknetes Blut.
»Sie arbeiten schon lange mit den O/BEK-Prozessoren«, sagte Ray.
»O ja, Sir. Seit Gencorp-Zeiten. Ich habe sogar noch Dr. Gupta erlebt, als er im Berkeley-Laboratorium wirkte.«
»Haben Sie sich jemals gefragt, Charlie, was wir zum Leben erweckt haben, als wir das Auge bauten?«
»Wie bitte?«
»Als wir einen so beschissen großen mathematischen Phasenraum bauten und ihn mit selbstregulierendem Code bevölkerten?«
»Na ja, so kann man es wohl auch sehen.«
»Es gibt im ganzen Universum kein Phänomen, das man nicht mathematisch beschreiben könnte. Alles nichts als Rechenoperationen, Charlie, Sie und ich eingeschlossen, wir sind nur kleine separierte Berechnungen, Wasser und Minerale, die Millionen Jahre alten Bauanleitungen ausführen.«
»Das ist eine düstere Sichtweise.«
»Sagte der Affe, als er Gefahr witterte.«
»Wie bitte?«
»Nichts. Entschuldigen Sie. Ich hab ein bisschen wenig geschlafen.«
»Das kenne ich«, sagte Charlie, obwohl er sich kaum jemals so hellwach gefühlt hatte wie in diesem Moment.
Irgendwie gelang es Ray, das Auto auf der Straße zu halten. Charlie war überaus erleichtert, als er linker Hand den Wachposten auftauchen sah. Er fragte sich, wer wohl das Pech gehabt hatte, in einer so elenden Nacht — ach nein, es war schon Morgen — zum Wachdienst eingeteilt zu werden. Es war Nancy Saeed, wie sich herausstellte. Sie scannte Charlies Zugangsausweis und nahm sichtlich überrascht die Anwesenheit Ray Scutters zur Kenntnis. Nancy war früher bei der Navy gewesen; als sie Ray sah, setzte sie zu einem militärischen Gruß an, besann sich dann aber eines Besseren.
Kurz darauf parkte Ray ganz in der Nähe des Haupteingangs. Das war der Vorteil, wenn man so früh kam: Man fand auf jeden Fall einen guten Parkplatz.
Er führte Ray in sein Büro, wo sie ihre Jacken ablegten. Charlie hatte schon zahlreiche Führungen für Würdenträger und Prominente bestritten und dabei einen festen Ablauf entwickelt: Einführung und Verhaltensregeln in seinem Büro, anschließend der Rundgang. Aber dies war jetzt keine der üblichen Schauveranstaltungen. Alles andere als das.
»Ich habe Ihre Tochter letztens hier getroffen«, sagte Charlie.
Ray neigte den Kopf auf die Seite wie ein Raubtier, das Witterung aufnimmt. »Tessa war hier?«
»Tja, sie … ja, sie kam vorbei und wollte den Betrieb mal sehen.«
»Ganz allein?«
»Ihre Mutter hat sie hinterher abgeholt.«
Ray zog eine Grimasse. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen sagen, dass ich stolz bin auf meine Tochter, Charlie. Leider kann ich das nicht. In vieler Hinsicht ist sie das Kind ihrer Mutter. Dieses Risiko geht man immer ein, wenn man das genetische Rouletterad in Bewegung setzt. Haben Sie Kinder?«
»Nein«, sagte Charlie.
»Gut für Sie. Niemals die eigenen Basispaare auflösen, sonst ist man immer der Angeschissene.«
»Sir.« Charlie wusste nicht, wo er hingucken sollte.
»Was wollte sie, Charlie?«
»Ihre Tochter? Sich einfach mal umsehen.«
»Tess hat einige emotionale Probleme gehabt. Manchmal ist Wahnsinn ansteckend.«
Wenn das so ist, dachte Charlie, dann wäre eine Untersuchung bei dir überfällig. »Es passieren seltsame Dinge«, sagte er, um einen freundlichen Ton bemüht. »Ziehen Sie doch Ihre Schuhe aus und schlüpfen Sie in eins von diesen Wegwerfpaaren. Ich bin gleich wieder da.«
»Wo wollen Sie hin?«
»Ich will sehen, ob ich einen Installateur zu fassen kriege«, sagte Charlie.
Er ging so weit den Flur hinunter, dass es glaubwürdig wirkte. Sobald er um eine Ecke gebogen war, zückte er seinen Pocket-Server und verlangte nach Tabby Menkowitz vom Sicherheitsdienst. Gleich darauf hatte er sie am Apparat.
»Charlie? Es ist eine Stunde vor Sonnenaufgang — was machen Sie hier?«
»Ich glaube, wir haben eventuell ein Problem, Tab.«
»Wir haben viele Probleme. Welche Geschmacksrichtung können Sie anbieten?«
»Ray Scutter ist in meinem Büro und möchte eine Führung durchs Werk.«
»Sie wollen mich auf den Arm nehmen.«
»Schön wär's.«
»Er soll einen Termin vereinbaren. Wir haben schon genug zu tun.«
»Tabby, ich kann ihm nicht einfach sagen …« Er stutzte über das, was sie gesagt hatte. »Was habt ihr zu tun?«
»Wissen Sie das nicht? Sprechen Sie mit Anne. Ist vielleicht ganz gut, dass Sie jetzt aufgekreuzt sind. Soweit ich höre, geben die O/BEKs lauter sonderbare Zahlen aus, und die Leute von der Beobachtung sind aus irgendeinem Grund total aufgeregt … Aber dafür bin ich nicht zuständig, ich weiß nur, dass alle zu beschäftigt sind, um sich mit der Verwaltung auseinanderzusetzen. Also setzen Sie Mr. Scutter in die Warteschleife.«
»Ich glaube nicht, dass er in der Stimmung ist zu warten. Er …«
»Charlie! Ich habe zu tun, okay? Kümmern Sie sich drum!«
Charlie eilte zurück in sein Büro. Irgendetwas Schwerwiegendes war mit den O/BEKs im Gange, und er wollte nach unten, um die Sache unter die Lupe zu nehmen. Aber eins nach dem anderen. Erst einmal Ray, wenn möglich, nach draußen komplimentieren, oder ihn mit Tabby verbinden, falls er damit ein Problem hatte.
Aber das Büro war leer.
Ray war weg. Ebenfalls weg war, wie Charlie sofort bemerkte, seine Ausweiskarte, die ihm überall Zugang verschaffte: einfach vom Revers seiner Jacke gepflückt, die er an den Haken neben der Tür gehängt hatte.
»Scheiße«, sagte Charlie.
Er rief noch einmal Tabby Menkowitz an, doch diesmal konnte er sie nicht erreichen. Irgendwas stimmte nicht mit seinem Pocket-Server. Er klingelte einmal, dann wurde der Bildschirm blau. Er hantierte noch immer mit dem Gerät, als plötzlich der Boden unter seinen Füßen zu vibrieren begann.
Unter dem Gezwitscher seines Pocket-Servers, den er auf den Nachttisch gelegt hatte und der dort leuchtete wie ein phosphoreszierender Bleistift, stieg Chris aus schwarzem und traumlosem Schlaf auf. Er konsultierte die Uhr im Display, bevor er auf den Annahmeknopf drückte. Es war vier Uhr morgens. Er hatte gerade mal eine Stunde richtig geschlafen. Der Sturm nagte noch immer an der Hülle des Hauses.
Es war Elaine Coster, die ihn anrief. Sie sei in der Ambulanz, teilte sie mit, zusammen mit Sebastian Vogel und Sue Sampel. Sue habe Stichverletzungen erlitten, die ihr Ray Scutter zugefügt hatte. »Vielleicht solltet ihr herkommen, falls ihr es schafft bei diesem Wetter. Ich meine, es ist nicht hundertprozentig dringend; Sue wird's überleben — sie hat übrigens sogar nach euch gefragt —, aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass es vielleicht ganz klug wäre, wenn unser Haufen für eine Weile zusammenbliebe.«
Chris sah, wie Marguerite sich unruhig unter den Decken wälzte. »Wir kommen so schnell wir können.«
Er weckte sie und erzählte ihr, was passiert war.
Читать дальше