Aber er zögerte. Es war absolut still auf dem Platz, nur Chris' Würgen und Stöhnen war zu hören. Am Ende war es dieses Würgen, das den Ausschlag gab. Marek stieg von Sir Guy herunter und streckte die Hand aus, um ihm aufzuhelfen.
Sir Guy nahm die Hand und stand auf. Dicht vor Marek stehend, sagte er: »Du Bastard, ich sehe dich in der Hölle wieder«, dann drehte er sich um und ging davon.
31:15:58
Der kleine Bach schlängelte sich durch moosiges Gras und
Wildblumen. Chris kniete davor und tauchte den Kopf unter Wasser.
Dann richtete er sich prustend und hustend wieder auf. Er sah Marek an,
der neben ihm kauerte und ins Nichts starrte.
»Ich habe genug«, sagte Chris. »Ich habe echt genug.«
»Kann ich mir vorstellen.«
»Ich könnte jetzt tot sein«, sagte Chris. »Und das soll ein Sport sein? Weißt du, was das ist? Ein Kamikazerennen auf Pferden. Diese Leute sind verrückt.« Er tauchte den Kopf wieder ins Wasser. »Chris.«
»Ich hasse es, wenn ich kotzen muß. Ich hasse es.« »Chris.«
»Was? Was ist denn jetzt? Willst du mir sagen, daß ich so meine Rüstung rostig mache? Das ist mir scheißegal, Andre.« »Nein«, erwiderte Marek. »Ich will dir sagen, daß so dein Filzunterhemd aufquillt, und dann wird es schwierig, die Rüstung abzunehmen.«
»Ach wirklich? Ist mir auch egal. Diese Knappen werden sie schon herunterbekommen.« Chris lehnte sich im Moos zurück und hustete. »O Gott, ich werde diesen Gestank nicht los. Ich muß mich baden oder sonst was.«
Marek saß neben ihm und sagte nichts. Er ließ Chris einfach seinem Ärger Luft machen. Chris' Hände zitterten, während er plapperte. Besser, er redet sich alles von der Seele, dachte Marek.
Auf der Wiese unter ihnen übten Bogenschützen in Kastanienbraun und Grau. Ohne das Getümmel des nahen Turniers zu beachten, schossen sie geduldig auf Ziele, gingen ein paar Schritte zurück und schossen wieder. Es war genauso, wie es in den alten Texten hieß: Die englischen Bogenschützen waren höchst diszipliniert, und sie übten jeden Tag.
»Diese Männer sind die neue militärische Macht«, sagte Marek. »Sie entscheiden jetzt die Schlachten. Schau sie dir an.« Chris stützte sich auf den Ellbogen. »Du machst Witze«, sagte er. Die Bogenschützen waren jetzt mehr als zweihundert Meter von ihren Zielscheiben entfernt - die Länge von zwei Fußballfeldern. Auf diese Distanz waren sie nur winzige Gestalten — und doch richteten sie zuversichtlich ihre Bogen gen Himmel. »Meinen die das ernst?« Der Himmel war schwarz vor surrenden Pfeilen. Kurz darauf trafen sie die Zielscheiben oder bohrten sich knapp daneben ins Gras. »Die meinen es ernst«, sagte Chris.
Eine neue Garbe rauschte durch die Luft. Und noch eine und noch eine. Marek zählte. Drei Sekunden zwischen den Garben. Es stimmt also wirklich, dachte er: Englische Bogenschützen konnten zwanzig Schuß pro Minute abgeben.
»Heranstürmende Ritter halten einem solchen Angriff nicht stand«, sagte er. »Die Pfeile töten Reiter und Pferde. Das ist der Grund, warum die englischen Ritter absteigen, um zu kämpfen. Die Franzosen greifen immer noch auf traditionelle Art an, und deshalb werden sie einfach niedergemetzelt, bevor sie überhaupt in die Nähe der Engländer kommen. Viertausend tote Ritter bei Crecy, noch mehr bei Poitiers. Eine hohe Zahl für diese Zeit.«
»Warum ändern die Franzosen nicht ihre Taktik? Sehen Sie denn nicht, was passiert?«
»Sie sehen es, aber es bedeutet das Ende eines ganzen Lebensstils, eigentlich einer ganzen Kultur«, sagte Marek. »Ritter sind alle von Adel; ihre Art zu leben ist zu teuer für das gemeine Volk. Ein Ritter muß sich seine Rüstung und mindestens drei Schlachtrosse kaufen, und er muß für den Unterhalt seines Gefolges aus Knappen und Bediensteten sorgen. Und diese edlen Ritter waren bis jetzt der ent-scheidende Faktor in der Kriegsfuhrung. Doch das ist jetzt vorbei.« Er deutete zu den Bogenschützen auf der Wiese. »Diese Männer kommen aus dem einfachen Volk. Sie gewinnen durch Koordination und Disziplin. Für sie geht es nicht um Heldenmut und Tapferkeit. Sie erhalten einen Lohn und tun ihre Arbeit. Aber sie sind die Zukunft der Kriegsführung - bezahlte, disziplinierte, gesichtslose Truppen. Die Ritter sind am Ende.«
»Außer bei den Turnieren«, entgegnete Chris mürrisch.
»Das ist so ziemlich das einzige, was ihnen bleibt. Aber sogar dort macht sich der Wandel bemerkbar. All diese Flattenpanzer über den
Kettenhemden - das ist alles wegen der Pfeile. Durch einen ungeschützten Mann geht ein Pfeil glatt durch, und er durchdringt auch ein Kettenhemd. Also brauchen die Männer Plattenpanzer. Und die
Pferde ebenfalls. Aber bei einer solchen Garbe...« Marek deutete zu dem surrenden Regen aus Pfeilen. »Da ist es vorbei.«
Chris warf einen Blick zurück zum Turnierplatz. Und dann sagte er:
»Na, wird aber auch langsam Zeit!«
Marek drehte sich um und sah fünf livrierte Pagen, die in Begleitung zweier Wachen in roten und schwarzen Überwürfen auf sie zukamen.
»Jetzt komme ich endlich aus diesem verdammten Metall heraus.«
Chris und Marek standen auf, als die Männer sie erreicht hatten. »Ihr habt die Regeln des Turniers verletzt, den edlen Ritter Guy Malegant entehrt und das Wohlwollen Lord Olivers mißbraucht. Ihr seid verhaftet und habt mit uns zu kommen.«
»Moment mal«, sagte Chris. »Wir haben ihn entehrt?«
»Ihr habt mit uns zu kommen.«
»Moment mal.«
Der Soldat schlug ihm kräftig auf den Kopf und stieß ihn vorwärts. Marek folgte. Flankiert von den Wachen gingen sie zur Burg. Kate war noch immer auf dem Turnier und suchte nach Chris und Andre. Zuerst dachte sie daran, in den Zelten auf der anderen Seite des Turnierplatzes nachzuschauen, aber dort waren nur Männer — Ritter und Knappen und Pferdeknechte —, und deshalb ließ sie es sein. Das hier war eine fremde Welt, Gewalt lag in der Luft, und sie hatte beständig das Gefühl, in Gefahr zu sein. Fast jeder in dieser Welt war jung: Die Ritter, die über den Platz stolzierten, waren Mitte Zwanzig oder Anfang Dreißig, und die Knappen und Burschen waren noch Knaben. Kate war gewöhnlich angezogen und offensichtlich keine Adlige. Wenn man sie einfach davonschleppen und vergewaltigen würde, dachte sie, würde keiner davon Notiz nehmen. Obwohl es Mittag war, merkte sie, daß sie sich verhielt, wie sie es in New Haven bei Nacht tat. Sie versuchte, nie allem zu sein, sondern sich immer in der Nähe einer Gruppe zu bewegen, und um Ansammlungen von Männern machte sie einen weiten Bogen.
Das Johlen der Menge, die das nächste Ritterpaar anfeuerte, in den Ohren, bahnte sich sich einen Weg hinter die Tribünen. Auch zwischen den Zelten links von ihr keine Spur von Chris oder Marek. Und doch hatten sie den Turnierplatz erst vor wenigen Minuten verlassen. Waren sie in einem der Zelte? Seit einer Stunde hatte sie in ihrem Ohrstöpsel nichts mehr gehört; aber das lag sicher daran, daß Chris und Marek Helme trugen, die die Übertragung blockierten. Aber die Helme hatten sie inzwischen doch bestimmt abgenommen?
Dann endlich entdeckte sie die beiden, ein Stückchen hügelabwärts saßen sie an einem mäandernden Bach.
Sie ging den Hügel hinunter. Ihre Perücke war heiß und kratzig in der Sonne. Vielleicht konnte sie sie abnehmen und ihre Haare einfach unter eine Kappe stecken. Oder vielleicht sollte sie die Haare noch ein bißchen kürzer schneiden, dann würde sie auch ohne Kappe als junger Mann durchgehen.
Könnte interessant sein, dachte sie, für eine Weile ein Mann zu sein. Gerade überlegte sie, wo sie eine Schere herbekam, als sie die Soldaten sah, die sich Marek und Chris näherten. Sie ging langsamer. Zwar hörte sie noch nichts in ihrem Ohrstöpsel, aber sie war so nahe dran, daß sie eigentlich etwas hören mußte.
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