Kate Erickson drückte sich flach an die Wand und spürte den feuchten Stein an ihrem Rücken. Sie war in eine der Zellen geschlüpft, und jetzt wartete sie mit angehaltenem Atem, während die Wachen, die Marek und Chris eingesperrt hatten, an ihr vorbeigingen. Die Wachen lachten, sie schienen guter Stimmung zu sein. Einen der beiden hörte sie sagen: »Sir Oliver war sehr verstimmt über diesen Hainauter, weil er einen Narren aus seinem Stellvertreter gemacht hat.«
»Und der andere war noch schlimmer! Reitet wie ein nasser Sack, aber bricht zwei Lanzen mit Tete Noire!« Gelächter.
»Fürwahr, er hat einen Narren aus Tete Noire gemacht. Und dafür wird
Lord Oliver sie köpfen, bevor die Nacht hereinbricht.«
»Wenn ich mich nicht täusche, schlägt er ihnen die Köpfe noch vor dem
Festmahl ab.«
»Nein, danach. Dann gibt es mehr Zuschauer.« Wieder Gelächter. Sie gingen den Korridor entlang, ihre Stimmen wurden schwächer. Bald konnte sie sie kaum mehr hören. Dann kam eine kurze Stille — stiegen sie jetzt die Treppen hoch? Nein, noch nicht. Sie hörte sie noch einmal lachen. Das Lachen dauerte an. Aber es klang merkwürdig, gezwungen. Irgend etwas stimmte nicht.
Sie horchte angestrengt. Sie sagten etwas über Sir Guy und Lady Claire. Kate konnte es nicht richtig verstehen. Sie hörte: »... arg geplagt von unserer Lady ...« und wieder Gelächter. Kate runzelte die Stirn.
Ihre Stimmen klangen nicht mehr ganz so schwach.
Nicht gut. Sie kamen zurück. Warum? dachte sie. Was war da los?
Sie schaute zur Zellentür. Und dort auf dem Steinboden sah sie ihre nassen Fußspuren, die in die Zelle führten.
Ihre Schuhe waren naß vom Gras am Bachufer. Auch die Schuhe aller anderen waren naß, und so verlief in der Mitte des Steinbodens ein nasser, schlammiger Pfad aus vielen Fußabdrücken. Aber ein
Abdruckpaar bog ab in ihre Zelle.
Und irgendwie hatten die Männer das bemerkt.
Verdammt.
Eine Stimme: »Wann geht das Turnier zu Ende?« »Zur None.«
»Wohlan, dann ist es ja bald soweit.«
»Lord Oliver wird sich beeilen zu speisen und sich dann auf den Erzpriester vorbereiten.«
Sie horchte und versuchte, die verschiedenen Stimmen zu zählen. Wie viele Wachen waren es gewesen? Mindestens drei. Vielleicht fünf? Sie hatte zuvor nicht darauf geachtet. Verdammt.
»Es heißt, der Erzpriester bringt tausend Männer unter Waffen.«
Vor ihrer Tür wanderte ein Schatten über den Boden. Das bedeutete,
daß sie jetzt auf beiden Seiten der Zellentür standen.
Was konnte sie tun? Sie wußte nur, daß sie sich auf keinen Fall gefangennehmen lassen durfte. Sie war eine Frau, sie hatte hier nichts zu suchen; sie würden sie vergewaltigen und töten.
Aber, dachte sie, sie wissen nicht, daß ich eine Frau bin. Noch nicht.
Vor der Tür war Stille, dann ein Schlurfen. Was würden sie als nächstes tun? Wahrscheinlich einen Mann in die Zelle schicken,
während die anderen draußen warteten. Und unterdessen würden die anderen sich bereit machen, würden ihre Schwerter ziehen und sie zum
Zuschlagen heben -
Länger konnte sie nicht mehr warten. Sie duckte sich und rannte los. Als der erste Soldat durch die Tür kam, rammte sie ihn, traf ihn seitlich auf Kniehöhe, und er fiel mit einem Aufschrei der Überraschung und des Schmerzes nach hinten. Die anderen Wachen fluchten, aber sie war bereits durch die Tür, hinter ihr klirrte fun-kensprühend ein Schwert auf den Boden, und sie rannte den Gang hoch. »Eine Frau! Eine Frau!« Sie liefen ihr nach.
Nun war sie auf der Wendeltreppe und lief nach oben. Hinter ihr schepperten Rüstungen, als die Männer ihr im engen Treppenhaus nachsetzten. Aber dann war sie im Erdgeschoß und tat, ohne nachzudenken, das Naheliegende: Sie lief direkt in den Festsaal. Er war verlassen, die Tische waren für ein Festmahl gedeckt, das Essen aber noch nicht aufgetragen. Sie lief an den Tischen vorbei und suchte nach einem Versteck. Hinter den Wandbehängen? Nein, die hingen zu dicht an der Wand. Unter den Tischen? Nein, dort würden sie zuerst nachsehen. Wo? Wo? Plötzlich sah sie den riesigen Kamin, das Feuer loderte immer noch hoch. Gab es nicht einen Geheimgang, der aus dem Saal hinausführte? War der hier oder war der in La Roque? Sie wußte es nicht mehr.
Sie sah sich selbst in Khaki-Shorts, Polohemd und Nike-Turn-schuhen, wie sie träge durch die Ruinen schlenderte und sich Notizen machte. Ihre einzige Sorge - falls sie damals überhaupt eine gehabt hatte — war es gewesen, ihre Kollegen zufriedenzustellen. Sie hätte besser aufpassen sollen.
Die Männer kamen näher. Es blieb keine Zeit mehr. Sie rannte zu dem fast drei Meter hohen Kamin und schlüpfte hinter den großen, halbrunden vergoldeten Schirm. Das Feuer war glühend heiß, Hitzewellen brandeten gegen ihren Körper. Sie hörte die Männer in den Saal kommen, schreiend und suchend liefen sie umher. Sie drückte sich hinter den Schirm, hielt den Atem an und wartete. Tritte und Stöße, das Scheppern von Geschirr. Die Stimmen der Männer konnte Kate nicht verstehen, sie verschmolzen mit dem Prasseln der Flammen hinter ihr. Ein metallisches Klappern war zu hören, als irgend etwas umfiel, es klang wie ein Fackelständer, etwas Großes. Sie wartete.
Ein Mann bellte eine Frage, aber sie hörte keine Antwort. Ein anderer rief eine zweite Frage, und diesmal hörte sie eine leise Ant-wort. Es klang nicht wie ein Mann. Mit wem sprachen sie? Etwa eine Frau? Kate horchte: Ja, es war eine Frauenstimme. Sie war sich ganz sicher.
Noch ein Wortwechsel, und dann das Klirren von Rüstungen, als die
Männer aus dem Saal liefen. Kate spähte hinter dem vergoldeten
Schirm hervor und sah sie durch die Tür verschwinden.
Sie wartete noch einen Augenblick und kam hinter dem Schirm hervor.
Im Saal stand ein junges Mädchen von zehn oder elf Jahren. Sie hatte ein weißes Tuch um den Kopf gewickelt, so daß nur ihr Gesicht zu sehen war. Sie trug ein locker fallendes, rosafarbenes Kleid, das fast bis zum Boden reichte. Im Arm trug sie einen goldenen Krug, aus dem sie Wasser in die Kelche auf dem Tisch goß.
Das Mädchen begegnete ihrem Blick und starrte sie nur an.
Kate befürchtete, daß sie aufschreien würde, aber sie tat es nicht. Sie sah sie nur einen Augenblick lang neugierig an und sagte dann: »Sie sind nach oben gelaufen.«
Kate drehte sich um und rannte davon.
Durch die hohen Fenster drangen das Schmettern der Trompeten und das Geschrei der Turnierzuschauer in die Zelle zu Marek und Chris. Der Wachsoldat machte ein unglückliches Gesicht, beschimpfte Marek und den Professor und kehrte dann zu seinem Hocker zurück. Der Professor fragte leise: »Hast du noch einen Marker?« »Ja«, sagte Marek. »Hast du deinen noch?«
»Nein, ich habe ihn verloren. Ungefähr drei Minuten, nachdem ich hier ankam.«
Der Professor berichtete, er sei in der bewaldeten Ebene in der Nähe des Flusses und des Klosters gelandet. ITC hatte ihm versichert, daß dies ein menschenleerer Fleck sei, aber ideal gelegen. Ohne sich weit von der Maschine zu entfernen, könne er alle wichtigen Orte seiner Ausgrabung sehen.
Was dann passiert war, war reines Pech: Der Professor war genau in dem Augenblick gelandet, als eine Gruppe Holzfäller mit geschulterten Äxten zur Arbeit in den Wald ging.
»Sie sahen die Lichtblitze, und dann sahen sie mich und fielen betend auf die Knie. Erst glaubten sie, sie hätten ein Wunder gesehen. Dann überlegten sie es sich anders, und die Äxte kamen von den Schultern«, sagte der Professor. »Ich dachte, sie würden mich töten, aber zum Glück kann ich Provenzalisch. Ich überzeugte sie, mich zum Kloster zu bringen und die Mönche entscheiden zu lassen, was ich bin.« Die Mönche nahmen ihn den Holzfällern ab, zogen ihn aus und untersuchten seinen Körper nach Stigmata. »Sie suchten an ziemlich ungewöhnlichen Stellen«, sagte der Professor. »Und deshalb verlangte ich, den Abt zu sehen. Der Abt wollte wissen, wo sich der Geheimgang in La Roque befindet. Ich glaube, er hat ihn Arnaut versprochen. Wie auch immer, ich vermutete, daß er in den Dokumenten des Klosters zu finden sein müsse.« Der Professor grinste. »Ich erklärte mich bereit, seine Pergamente für ihn durchzugehen.« »Ja?«
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